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Das U-Boot „Chabarowsk“, der zweiten Träger des Poseidon-Systems, wird der russischen Marine frühestens im Jahr 2021 zur Verfügung stehen. Bisher war man davon ausgegangen, dass das U-Boot in diesem Sommer zu Wasser gelassen wird und seine zweijährige Erprobung beginnt. In einem auf Twitter veröffentlichten Artikel der russischen Nachrichtenagentur Tass stellt Mikhail Budnichenko, Generaldirektor des russischen Werftkomplexes Sevmash, nun klar, dass sich das Projekt verzögert.

Über die Merkmale des Atom-U-Bootes mit der Projektbezeichnung 09851 ist wenig bekannt. Seine Verdrängung soll zehntausend Tonnen betragen, Geschwindigkeit 30-32 Knoten, 500 Meter Tauchtiefe, Autonomie bis zu 120 Tagen, Besatzung mindestens 100 Personen. Einerseits wird berichtet, es handele sich um ein neues Design, das von der Bauwerft Sevmash in Sewerodwinsk eigens für den Einsatz von Poseidon entwickelt worden sei. Andererseits heißt es auch, bei „Chabarowsk“ und ihren zwei vorgesehenen Schwesterschiffen würden Strukturelemente des strategischen Atom-U-Bootes der Borey-Klasse verwendet.

Der erste Träger des Poseidon-Systems, das Atom-U-Boot „Belgorod“ (Projekt 09852), wurde am 23. April 2019 zu Wasser gelassen (ESuT berichtete). Seine Indienstellung (Übernahme durch die Marine) war für September dieses Jahres angekündigt. „Belgorod“ ist mit 184 m das längste U-Boot der Welt, die Verdrängung liegt bei 30.000 Tonnen (getaucht), womit sie die Atom-U-Boote (SSBN/SSGN) der russischen „Typhoon“- sowie die „Ohio“-Klasse der US-Marine übertrifft. Das U-Boot, eigentlich eine „Oscar II“-Klasse, zu der auch die „Kursk“ gehörte, wurde zunächst nach Projekt 949A gebaut, später zu einem Sonderprojekt als Untersee-Mutterschiff umfunktioniert, u.a. zur Aufnahme des (immerhin getaucht mehr als zweitausend Tonnen verdrängenden) U-Bootes Losharik. Aus der dürftigen Nachrichtenlage lässt sich entnehmen, dass die Seeversuche mit der „Belgorod“ im Juli 2020 angelaufen sind. Die ersten Tests mit Poseidon sollen für den Herbst dieses Jahres vorgesehen sein. Dessen Einsatzreife (dann auf „Chabarowsk“) wird zwei Jahre später erwartet.

 

 

Poseidon, auch als 2M39 und als Status-6 bezeichnet, wird unter dem NATO-Codenamen Kanyon geführt – je nach Provenienz der Experten mal als Torpedo und mal als Unterwasserdrohne. Mit einer interkontinentalen Reichweite von fast 10.000 km bei einer Höchstgeschwindigkeit von ca. 100 km/h (54 Knoten) ist das nuklearangetriebene System in der Lage, seine Ladung über sehr große Entfernung ins Ziel zu bringen. Nach der Einschätzung von Analysten, die sich auf (absichtlich?) geleakte technische Zeichnungen und die Auswertung einiger vom russischen Verteidigungsministerium veröffentlichten Testbildern abstützen, ist Poseidon etwa 24 Meter lang und hat einen Durchmesser von 1,6 Metern. Die Skizzen zeigen einen Gefechtskopf von etwa vier Metern Länge bei einem Durchmesser von 1,5 Meter. Die Angaben zur Sprengkraft reichen von zwei bis 100 Megatonnen.

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Sowohl „Belgorod“ als auch (die drei) „Chabarowsk“ sollen über je sechs Poseidon verfügen. Inwieweit eine Wiederbeladung während des Einsatzes der Träger möglich ist, was (eine) weitere Chargierung(en) bedingen würde, ist zurzeit nicht bekannt. Amerikanischen Analysten zufolge soll die russische Marine bis 2030 über dreißig Poseidon-Systeme verfügen.

Im März 2018 hatte der russische Präsident Wladimir Putin die Öffentlichkeit über seine Pläne zur Stärkung der russischen militärischen Reaktionsfähigkeiten als Antwort auf amerikanische Stationierungspläne in Polen und Rumänien informiert. Dabei ließ er mehrere Videos über neuartige Waffensysteme zeigen – so auch von Poseidon.

Mit Poseidon verspricht sich Russland die Stärkung seiner Zweitschlagskapazität. Mögliche Ziele sind Trägergruppen sowie küstennahe Infrastruktur. Moskau schlägt ein neues Kapitel in der Marineseekriegführung auf. Technologische Vorteile sprechen nicht mehr in dem bisher gewohnten Maße für U-Boote. Hinzu kommen die Fortschritte in den Techniken und Methoden der U-Boot-Bekämpfung. Der Einsatz von Big Data und die Zusammenführung einer Vielfalt von Sensoren, die, um nur ein Beispiel aufzugreifen, in der Lage sind, die von U-Boot-Reaktoren freigesetzte Strahlung zu erfassen, erfordern neue Ansätze. Gleichzeitig wird es teurer, die U-Boote leiser zu machen bzw. besser zu tarnen. U-Boote, die in den Tiefen oder gar nah am Meeresgrund verweilen können und dort operieren, können sich der Entdeckung entziehen. Gelänge gar der Waffeneinsatz, etwa per Poseidon, erführe die traditionelle maritime Kriegführung unter Wasser einen Paradigmenwechsel – wie auch das Prinzip nuklearer Abschreckung. Zudem eröffnet die Möglichkeit, die Arktische See verstärkt zu nutzen, Russland weitere Optionen.

Natürlich birgt ein derartiges System auch eine Portion Skepsis. Die Anforderungen an die Führungsfähigkeit nehmen deutlich zu, sobald ein autonomes System bzw. Torpedos mit nuklearem Potential derart weit abgesetzt operieren und man unter Umständen den Angriff abbrechen oder einen Zielwechsel vornehmen möchte.

Seine verheerende Wirkung bei einem Einsatz in Küstennähe ist besorgniserregend. Neben den unmittelbaren Trefferwirkungen sind Sekundärwirkungen durch Tsunamis denkbar.

Auch bei Bemühungen um nukleare Rüstungskontrolle können diese neuen Ansätze nicht unberücksichtigt bleiben.

Hans Uwe Mergener