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„Ich kämpfe, damit mein 20-jähriger Sohn es nicht tun muss und seine Kinder irgendwann auch nicht. Es ist die Aufgabe meiner Generation, dafür zu sorgen, dass sie in Frieden leben können, egal was es kostet, wir wollen nicht unter russischem Joch leben.” Diesen Satz hat mir ein 45-jähriger Soldat der Armed Forces of Ukraine (AFU) bei unserer ersten Begegnung in Bachmut im Sommer 2022 buchstäblich entgegengeschleudert und seitdem in Variationen in jedem unserer vielen weiteren Gespräche. Und nicht nur er, jeder Soldat der ukrainischen Streitkräfte hat im Gespräch, egal wie frustriert sie vielleicht auch über taktische oder strategische Fehlentscheidungen der Oberkommandierenden waren, betont, dass man nicht einfach aufgeben könne.

Im Oktober vergangenen Jahres haben mein Team und ich eine Artillerieposition bei Kurachowe besucht, die russischen Positionen nur 1,5 Kilometer entfernt. Die Männer, die wir trafen, waren alle 50 Jahre und älter, seit Monaten auf Posten. Müde Gesichter waren es, die erzählten, dass keiner dort noch gesund sei, dass es an Munition mangele, die Lage insgesamt schwierig, aber, so ein Soldat „soll ich meine Familie etwa abschlachten lassen? Aufgeben ist keine Option”.

Die Angst vor Vernichtung lässt die Ukrainer weiterkämpfen

Genau das ist es, was viele – auch in Deutschland – vom Sofa aus diesen Krieg wie ein Fußballspiel kommentierend, fordern. Sollen sie doch endlich aufgeben, diese Ukrainer, waren doch eh mal mit den Russen zu Sowjet-Zeiten zusammen, wird schon nicht so schlimm werden. Doch die Ukrainer fürchten, ja wissen nach Butscha und insgesamt mittlerweile elf Jahren Krieg, dass es genau das werden könnte.

Tatjana Ohm ist Journalistin und Chefmoderatorin bei WELT. Sie berichtete aus Krisengebieten wie Afghanistan und der Ukraine. (Quelle: privat)
Tatjana Ohm ist Journalistin und Chefmoderatorin bei WELT. Sie berichtete aus Krisengebieten wie Afghanistan und der Ukraine. (Quelle: privat)

Es ist die Angst vor Vernichtung, die Angst vor dem, was drohen könnte unter russischer Herrschaft, die sie dazu bringt, weiterzukämpfen.

Es ist eine Angst, die unglaubliche Kräfte entfesseln kann. Ich habe es selbst erlebt. Als Bosnierin sind mir die Ängste und die daraus aber eben auch erwachsenden Resilienzen nur zu gut bekannt. Ich habe es vor 30 Jahren bei meinen Verwandten gesehen und ich erkenne es nun im Kampf der Ukrainer wieder. Sie sind ein häufig unterschätztes Element, wenn die Lage in der Ukraine betrachtet und analysiert wird. Da werden Truppenstärke und Waffensysteme gegeneinander aufgerechnet, doch in dieser Rechnung fehlt der menschliche Faktor, warum und wofür gekämpft wird und wozu der Mensch dann fähig ist.

Mit jeder Rakete bombt Putin die Ukrainer näher zusammen

Die Angst vor der Vernichtung führt unter anderem zu Wut, zu Verzweiflung, dies wird in Teilen kanalisiert in eine Trotzreaktion, gepaart mit unbändiger Kraft, mentaler wie auch physischer. Diese sorgt dafür, dass Soldaten in Unterzahl und mit schlechter Ausrüstung nicht in Massen desertieren, dass Sanitäter und Ärzte im Zustand völliger Erschöpfung weiter Leben retten, dass Postboten Briefe ausliefern entlang von Frontlinien, dass in umkämpften Städten Menschen Läden betreiben und nicht weichen wollen. Dass auch die Zivilbevölkerung in von den Frontlinien weit entfernten Städten die Einschränkungen des Kriegsrechts hinnimmt, einen Alltag weiterlebt, der bei aller oberflächlichen vermeintlichen Normalität nur wenig mit Normal zu tun hat.

Die Menschen rücken zusammen, stärken sich gegenseitig. Egal wie groß oder klein ihr Nationalbewusstsein, die verbindenden Elemente vor der Großinvasion waren, mit jeder abgeschossenen Rakete bombt Putin die Ukrainer noch näher zueinander, vertieft die Aversion gegen die Russen. Es sind Gefühle, die nur schwer nachzuempfinden sind, wenn man das Privileg hatte, einen Angriff auf sein Land, sein Leben, seine Liebsten nie selbst durchleben zu müssen.

Und ja, natürlich, die Menschen in der Ukraine sind kriegsmüde, sie wollen Frieden, und mit Sicherheit gibt es auch jene die sagen: Dann gebt den Russen doch die vier Gebiete, die sie in Teilen schon halten. Nur: Die Masse will eben einen gerechten Frieden, will, dass sich Russland zurückzieht aus den besetzten Gebieten, dass Reparaturleistungen erbracht werden, Kriegsverbrechen geahndet und nicht belohnt werden. Weil die Art von Frieden, den Putin und der Kreml noch immer im Sinn haben, wäre genau das: Belohnung von Aggression und dadurch eventuell auch die Ermunterung weiterzumachen. Der menschliche Faktor, der die Ukrainer trotz aller Widrigkeiten eben nicht aufgeben lässt, könnte auch dazu führen, dass sie einen solchen Diktatfrieden niemals akzeptieren werden.

Tatjana Ohm ist Journalistin und Chefmoderatorin bei WELT. Sie berichtete aus Krisengebieten wie Afghanistan und der Ukraine.