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„Wir dürfen nicht naiv sein“, war ein Satz, den Bundeskanzler Olaf Scholz mehrfach während der Münchner Konferenztage aussprach. Er hatte bei seinem Besuch bei Russlands Präsident Putin eine Geschichtsvorlesung über sich ergehen lassen müssen. Aus diesem Putinschen Geschichtsbild war wohl zu erkennen, dass es dem Präsidenten in Moskau bitter ernst mit seinen Drohungen gegen die Ukraine ist.

Wir dürfen nicht naiv sein: Putins Verhandlungsszenario war so infam aufgebaut, dass nur das Ergebnis herauskommen konnte, das erst am 21. Februar verkündet wurde: Die Anerkennung der beiden Kleinststaaten auf dem Gebiet der Ukraine. Und das dann am Morgen des 24. Februars in den Marschbefehl für seine Truppen mündete. Die Forderungen, die er an die westliche Welt stellte, sollten gar nicht erfüllbar sein. Deswegen hat er sie so formuliert, dass der Westen das gar nicht akzeptieren konnte. Und die Angebote, über Rüstungskontrolle und Vertrauensbildende Maßnahmen zu verhandeln, konnten in Moskau nur ein müdes Lächeln hervorrufen: Alle Abkommen dieser Art, die es gibt oder gab, hat Russland in den letzten Jahren verletzt. Misslich nur, dass vor allem die USA des Donald Trump Abkommen gekündigt haben, weil Russland sie nicht einhielt. Das war in der Sache verständlich, ist propagandistisch für Russland jetzt aber gut.

Und noch eines fällt auf: Die Tonart Putins hat sich immer mehr verschärft, seitdem auch in Belarus nach den gefälschten Präsidentenwahlen von 2020 eine Demokratiebewegung das Regime Lukaschenko an den Rand des Machtverlustes trieb. Da wurde der Umgang mit der russischen Opposition noch härter, da wurden zunächst die Positionsbeschreibungen, dann auch die Taten immer unversöhnlicher.

Die Entscheidung Putins rückt eine Frage in den Fokus der politischen Diskussion: Was ist das Völkerrecht eigentlich wert? Welchen Wert haben Verträge, die geschlossen worden sind? Die Vorgänge am Montag, dem 21. Februar 2022, haben das Völkerrecht endgültig zu einem Schönwetterrecht gemacht. Ein gewissenloser, brutal agierender, alten glorreichen Zeiten nachhängender russischer Präsident macht Grenzen, deren Existenz er selbst nicht erlebt hat, zur Maxime seiner Politik und tritt Jahrzehnte mühsam erarbeiteter Grundregeln der internationalen Zusammenarbeit – es sei der saloppe Begriff gestattet – in die Tonne.

Der 21. Februar 2022 ist der Tag, an dem die regelbasierte Außen- und Sicherheitspolitik ihr abruptes Ende nahm, zumindest zunächst. Russland, ein ständiges Mitglied des Weltsicherheitsrates, das also bisher von diesen Regeln profitiert hat, erkennt zwei Mini-Staaten an, die nicht lebensfähig sind. Putin hat die beiden Gebilde über seine „Aufständischen“ geschaffen. Sie gehören „völkerrechtlich“ zur Ukraine. Und dann überfällt er dieses Land!

Dieser Ukraine hat Russland die dort stationierten, früher sowjetischen Nuklearwaffen mit der Zusage abgeluchst, dass Russland die territoriale Integrität der Ukraine auf Dauer sichern werde. Wo wären wir heute, wenn die Ukraine damals diesen Vertrag nicht unterschrieben und die Atomwaffen behalten hätte?

Und dann schickt er nach der Anerkennung dieser beiden Kleinstaaten Truppen hinterher, die eine gar nicht bestehende Bedrohung beantworten sollen. Die Ukraine hat erklärt, dass sie – wie seinerzeit in Minsk verabredet – den beiden Provinzen einen Sonderstatus einräumt, also dort nicht eigene Truppen stationiert. Sonderstatus im Staat Ukraine, versteht sich, nicht im Staat Russland. Es gab keine militärische Bedrohung der Ukraine – nach russischer Diktion. Wer um Hilfe bittet, aber gar nicht hilfsbedürftig ist, hat anderes im Sinn.

Wie das Szenario weitergeht, können wir uns leicht vorstellen. Die beiden Separatisten, die nun von russischen Gnaden Staatschefs sind, werden alsbald feststellen, dass ihre „Staaten“ nicht lebensfähig sind. Sie werden dann einen Antrag stellen, der Russländischen Föderation beitreten zu dürfen. Aber vielleicht sind sie dann auf dem Eroberungswege schon „integriert“ worden.

Der Westen reagiert mit Sanktionen. Aktuell ist noch nicht klar, mit welchen. Man habe sich ja längst auf einen Katalog verständigt, hieß es in München. Aber trotzdem wurden erst einmal Beratungen aufgenommen. Es ist richtig und wichtig, mit massiven Sanktionen gegen Russland vorzugehen.

Nur: Wir dürfen nicht naiv sein: Putin interessieren diese Sanktionen nicht. Er geht seinen Weg, gleichgültig, wie es seinem Volk geht. Er hat ein völlig überzogenes Interesse an einem Geschichtsbild, das ihn auf eine Ebene mit Lenin und Stalin bringt. Sind seine Methoden noch so anders?

Wir erleben eine Phase der Geschichte, in der ein zu allem entschlossener Politiker seinen Weg geht – ohne Rücksicht auf die internationale Gemeinschaft, ohne Rücksicht auf das Völkerrecht, ohne Rücksicht auf alle Verträge und Abkommen, die das Land unterschrieben hat. Es herrscht das Recht des Stärkeren.

Rolf Clement