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Die aktuellen industriellen Kapazitäten zur Produktion von insbesondere 155-mm-Artilleriegeschossen in Europa sind weiterhin nicht ausreichend, um die Lieferungen an die Ukraine und den Aufwuchs von Lagerbeständen zu gewährleisten.

Russland hat bereits begonnen, seine industriellen Kapazitäten massiv auszubauen. Die Weichen für den Kapazitätsausbau müssen jetzt gestellt werden, um auch weiterhin das Ziel zu verfolgen, die Ukraine effektiv zu unterstützen sowie die Landes-/Bündnisverteidigung in den kommenden Jahren zu sichern. Um den Kapazitätsausbau signifikant voranzutreiben, bedarf es teils disruptiver politischer, rechtlicher und finanzieller Maßnahmen.

Herausforderungen

Ein Blick auf die verfügbaren Zahlen offenbart eine Reihe von Herausforderungen für den Kapazitätsausbau in der Munitionsproduktion: Der Bundeswehr fehlt nach aktuellem Stand Munition im Wert von 20 bis 30 Milliarden Euro. Insbesondere bei Artilleriemunition mit Kaliber 155 mm ist der Bestand sehr weit von der NATO-Vorgabe eines 30-Tage-Vorrats entfernt.

Die Versorgung mit Munition gehört zu den kritischen Prozessen beim Krieg in der Ukraine.

Der monatliche Bedarf der ukrainischen Streitkräfte beträgt rund 200.000 Schuss 155-mm-Munition. Im März 2023 haben die EU-Staaten zugesichert, der Ukraine binnen zwölf Monaten eine Million Artilleriegranaten zu liefern. Allerdings musste die EU Ende Januar 2024 einräumen, dass sie nur 52 % der versprochenen Million bis Ende März 2024 liefern kann.

Im Jahr 2023 hat das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) 845 Millionen Euro für Munition ausgegeben. Das sind 25 % weniger, als dem BMVg gemäß Haushaltsplanung zur Verfügung standen. 2023 hätte es Verträge von bis zu 1,8 Milliarden Euro unterschreiben dürfen – doch nur rund 630 Millionen Euro wurden gebunden. In den kommenden acht Jahren will das BMVg rund 20 Milliarden Euro für Munitionsbeschaffungsvorhaben aufwenden, davon 3,5 Milliarden Euro im laufenden Jahr 2024.

Ob es gelingt, die Aufwendungen zu erhöhen, hängt jedoch insbesondere von der Leistungsfähigkeit zum Kapazitätsausbau ab. Aktuell bestehen insbesondere mehrjährige Rahmenverträge mit der Rheinmetall AG über die Lieferung mehrerer hunderttausend Artilleriegeschosse. Nach eigenen Aussagen plant das Unternehmen im Jahr 2024 nach einer massiven Kapazitätserhöhung insgesamt rund 700.000 Artilleriegeschosse an Fertigungsstätten in Deutschland, Spanien, Südafrika und Australien zu produzieren. Mitte Februar erfolgte dazu etwa der Spatenstich für ein neues Munitionswerk im niedersächsischen Unterlüß.

Noch allerdings geht der Kapazitätsausbau in Deutschland und der EU weiterhin nur schleppend voran. Demgegenüber haben die USA ihre Produktionskapazitäten auch für Artilleriegeschosse seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine von monatlich 14.000 auf 28.000 verdoppelt und das Ziel eines Ausbaus auf eine Million bis 2025 ausgerufen.

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Der Bundeswehr fehlt nach aktuellem Stand Munition im Wert von 20 bis 30 Milliarden Euro; insbesondere bei 155-mm-Artilleriemunition ist der Bestand sehr weit von der NATO-Vorgabe eines 30-Tage-Vorrats entfernt (Foto: Rheinmetall)

Expertinnen und Experten schätzen, dass Russland bereits im Jahr 2022 1,7 Millionen Schuss Artilleriemunition produziert hat. Das Land wird im Jahr 2024 voraussichtlich 7,1 % seines Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben und setzt zudem auf Lieferungen aus nordkoreanischen Beständen. Für 2025 ist ein russisches Produktionsziel von drei Millionen Schuss ausgegeben worden.

Von verschiedener Seite weisen Expertinnen und Experten darauf hin, dass der NATO angesichts der russischen Aufrüstung nur drei bis fünf Jahre bleiben, um ihre Verteidigung gegen eine potenzielle russische Offensive auf das Bündnisgebiet zu stärken.

Handlungsoptionen

Um auf die Bedrohungslage durch Russland schnell reagieren zu können, müssen die Produktionskapazitäten für Munition exponentiell wachsen. Hierfür ist die politische Bereitschaft zur Umsetzung disruptiver struktureller Maßnahmen zwingend erforderlich.

Dazu können das BMVg und die Bundesregierung auf Instrumente zurückgreifen, die sich in anderen Sektoren bei der Krisenbewältigung bewährt haben.

Für einen raschen Kapazitätsaufbau ist es entscheidend,

  1. Planungssicherheit zu schaffen,
  2. Investitionen zu fördern,
  3. Genehmigungsverfahren zu erleichtern,
  4. Beschaffungs- und Vergabeprozesse weiter zu beschleunigen, und
  5. die europäische Koordination auszubauen.

Auf diese Weise könnten – neben den genannten Marktteilnehmern – insbesondere mittelständische und/oder neue Marktteilnehmer Kapazitäten aufbauen und so zu einer resilienten nationalen Verteidigungsindustrie beitragen.

1. Planungssicherheit schaffen
In einem engen Markt wie der Munitionsfertigung werden Unternehmen nur dann in einen kapitalintensiven Kapazitätsaufbau investieren, wenn Aufträge zur Auslastung der Kapazitäten mit ausreichender Sicherheit absehbar und somit Investitionen unternehmerisch tragbar sind.

Rahmenverträge mit langfristigen Abrufgarantien beispielsweise können die Planungssicherheit für Unternehmen erhöhen. Auch verbindliche und vorschriftlichte Absichtserklärungen können sinnvoll sein, ähnlich wie zu Beginn des Baus der LNG-Terminals. Dies kann die Industrie in die Lage versetzen, Investitionen vorzubereiten und/oder zu tätigen.

Darüber hinaus sollten staatliche Stellen und Unternehmen Informationen intensiver austauschen und enger zusammenarbeiten, um Vertrauen zu schaffen. Auf diese Weise könnten die Akteure auch mögliche Hürden bei der Planung, Beschaffung, Finanzierung oder Logistik früh erkennen und gemeinsam beseitigen. Dazu gehört etwa auch, den jährlichen Mittelabfluss zielgerichtet zu steuern. So könnte eine Planungsgruppe – bestehend aus Vertretern von Generalunternehmern, dem Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw), dem Kommando Heer und dem Planungsamt der Bundeswehr – bei jedem Rahmenvertrag dynamisch die Bedarfe und Lieferzeiten der jeweiligen Munitionskaliber evaluieren und die Zulieferung basierend auf operativen Prioritäten optimieren.

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Der monatliche Bedarf der ukrainischen Streitkräfte an 155-mm-Munition beträgt rund 200.000 Schuss (Foto: MoD UKR)

2. Investitionen fördern
Die Risiken einer Investition in den Aufbau von Kapazitäten vor der Erteilung umfangreicher Lieferaufträge sollten von staatlicher Seite finanziell abgesichert werden. Hierzu sind Kredite zu Sonderkonditionen für die Erweiterung von Produktionsinfrastruktur denkbar, etwa über ein KfW-Förderprogramm „Munition“.

Sinnvoll kann auch ein Finanzierungsfonds auf Basis staatlicher Garantien sein, ebenso wie die Vorfinanzierung wichtiger Rohstoffimporte. Dazu müssten entsprechende Investitionszuschüsse für den Infrastrukturaufbau vereinbart werden. Angesichts der Dringlichkeit sollte zudem in Betracht gezogen werden, eine „Projektgesellschaft Material“ (ebenfalls analog zum Bau der LNG-Terminals) in Bundeshand zu gründen, die beteiligte Unternehmen zusammenbringt – ähnlich den sogenannten „Industry Joint Teams“ im Eurofighter-Projekt.

Letztendlich muss auch privatwirtschaftliches Kapital für Rüstungsinvestitionen aktiviert werden. Institutionelle Investoren oder auch Family Offices suchen nach alternativen und sicheren Investmentmöglichkeiten. Hier sollte die Bundesregierung mehr Vertrauen schaffen und den sicherheitspolitischen Beitrag der Verteidigungsindustrie mit Blick auf die Diskussionen rund um die EU-Taxonomie stärken.

3. Genehmigungsverfahren erleichtern
Bauten, die planfeststellungsbedürftig sind und/oder eine Genehmigung nach Bundesimmissionsschutzgesetz erfordern, bedürfen in der Regel einer Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP). Das LNG-Beschleunigungsgesetz hat diesbezüglich einige Verfahrenserleichterungen gebracht, die auf die Planung und den Bau von Munitionsfabriken übertragbar sind. Mit erleichterten Prüfungsverfahren, verkürzten Einwendungsfristen und Ausnahmen von der UVP ließe sich wertvolle Zeit für den Ausbau industrieller Kapazitäten gewinnen.

Außerdem sind nationale Vorgaben für die Munitionsproduktion, die über NATO-
Anforderungen hinausgehen, auf den Prüfstand zu stellen. Dazu zählen beispielsweise klimabezogene Vorgaben und Vorgaben für die Produktion schadstoffarmer Munition. So sind etwa Bleiverbindungen in Zündern als gesundheitsgefährdende Emissionen eingestuft und in Deutschland und Schweden verboten.

4. Beschaffungs- und Vergabeprozesse beschleunigen
Die Auftragsvergabe muss wesentlich schneller und flexibler erfolgen. Dies ist schon nach geltender Rechtslage möglich: Die maßgeblichen Vergabevorschriften ermöglichen es, Unternehmen im Verhandlungsverfahren ohne einen vorherigen EU-weiten Teilnahmewettbewerb zu beauftragen. Weitgehend standardisierte und mit dem AGB-Recht konforme Verträge können den Transaktionsaufwand stark reduzieren. Der Einbezug mitgeltender Vorschriften sollte auf ein Mindestmaß reduziert werden. Dies würde die Vergabe nicht nur beschleunigen, sondern hätte auch einen Preisdämpfungseffekt.

Es erscheint realistisch, Vergabeverfahren mit den genannten Mitteln auf weniger als zehn Wochen zu verkürzen. Aufgrund der Dringlichkeit sollten diejenigen Möglichkeiten, die insbesondere das Beschaffungsbeschleunigungsgesetz sowie das bereits genannte LNG-Beschleunigungsgesetz bieten, voll ausgeschöpft werden.

Zudem sollten mittelständische Anbieter stärker adressiert und neue Lieferanten gezielt qualifiziert werden. Hierzu gilt es, die Bildung von Mittelstandsarbeitsgemeinschaften anzuregen und zu unterstützen, wie sie zum Beispiel im öffentlichen Bauwesen bereits existieren.

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Mitte Februar erfolgte der Spatenstich für eine neue Munitionsfabrik von Rheinmetall im niedersächsischen Unterlüss, danach informierten sich die Gäste über die bereits bestehenden Fabrikationsanlagen (Foto: Rheinmetall)

Außerdem ist die Anhebung des Mindestwerts der 25-Millionen-Euro-Vorlage im Bundestag zu prüfen. Für die Nachbeschaffung standardisierter Munitionskaliber ist darüber hinaus eine Aussetzung der parlamentarischen Zustimmungspflicht bis zu einem Volumen von 100 Millionen Euro in Betracht zu ziehen. Ferner sollte verstärkt auf überjährige Verpflichtungsermächtigungen gesetzt und das Controlling des BAAINBw für die Überwachung des Beschaffungsfortschritts ausgebaut werden. Schließlich erscheint es auch denkbar, die Beschaffung strategisch wichtigen Materials an eine Agentur auszulagern, wie es etwa für das BAAINBw in der Vergangenheit bereits vorgesehen war.

Zuletzt ist auch das Vergaberecht zugunsten industriepolitischer Kooperations- und Partnerschafsmodelle in sicherheitsrelevanten Bereichen zu überdenken. Hierzu zählt die Absicherung zukünftiger Produktionskapazitäten über vorwiegend nationale Hersteller. Insbesondere Frankreich setzt derzeit auf eine ReIndustrialisierung der französischen Rüstungsindustrie und hat ein eigenes Militärprogrammgesetz (Loi de programmation militaire, LPM) erlassen, um Vergaben überwiegend national umzusetzen.

5. Europäische Koordination ausbauen
Europa verfügt nur über eine geringe Anzahl von Munitionsherstellern. Es ist zu prüfen, ob – im Rahmen kartellrechtlicher Vorgaben – eine stärkere Zusammenarbeit und Koordination der Aktivitäten, etwa bei der Beschaffung, der Produktion oder der Logistik, zu Synergien und schnelleren Kapazitätssteigerungen führt. Steuern könnte dies beispielsweise eine internationale Beschaffungsagentur wie die Gemeinsame Organisation für Rüstungskooperation (OCCAR).

Ausblick

Die Bundeswehr hat einen guten Überblick über die benötigten industriellen Kapazitäten für die Munitionsproduktion. Der politische Wille, sie zu stärken, ist vorhanden, und die finanziellen Mittel stehen bereit. Dennoch geht der Kapazitätsaufbau nicht wie erhofft voran. Deshalb ist es an der Zeit für disruptive Maßnahmen. Deutschland benötigt eine enge Integration mit EU-Beschaffungsinitiativen, sollte sich jedoch auch bemühen, Maßnahmen im nationalen Kontext umzusetzen. Zusätzlich muss der Dialog geführt werden, wie Rüstungswirtschaft kooperativ in Europa verteilt werden kann und inwiefern sich Allianzen wie das Weimarer Dreieck nutzen lassen, um Herausforderungen gemeinsam anzugehen. Die in dieser Publikation aufgeführten Denkanstöße können dazu beitragen, den Ausbau der Munitionsproduktion signifikant voranzubringen und lassen sich nach individueller, regulatorischer Prüfung in Teilen bereits rasch umsetzen. Gleichzeitig dienen die präsentierten Handlungsoptionen als Blaupause für einen beschleunigten Kapazitätsaufbau in der erweiterten Verteidigungsindustrie und können auf andere Ausrüstungsgegenstände übertragen werden.

André Keller und Dr. Germar Schröder sind Partner bei Strategy& Deutschland.