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Am heutigen Donnerstag, genau einen Monat nach Beginn des vom Kreml initiierten Angriffskriegs auf die Ukraine, treffen sich die Staats- und Regierungschefs der NATO-Allianz in Brüssel zu einem Sondergipfel. In dem vorausgegangenen Pressebriefing hat der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg seine Erwartungen an das Treffen formuliert. Im Mittelpunkt steht seiner Aussage zufolge eine Neuausrichtung der  Allianz, die infolge des russischen Einmarsches in einen freien und unabhängigen Staat unerlässlich sei.

Acht multinationale Gefechtsverbände und ein Reset

Es werde erwogen, vier neue NATO-Gefechtsverbände (Battle Groups) in Bulgarien, Rumänien, der Slowakei und Ungarn aufzustellen, sagte Stoltenberg. Diese sollen auf die bereits vor Ort weilenden Verbände aufsetzen, wie der Generalsekretär auf Nachfrage erläuterte. Zusammen mit den bereits bestehenden NATO-Verbänden in den baltischen Staaten und in Polen wird das Verteidigungsbündnis somit acht multinationale Gefechtsverbände entlang der Ostflanke disloziert haben. Dazu kommen die unterstützenden Luft- und Seestreitkräfte, darunter fünf Flugzeugträgergruppen vom hohen Norden bis ins Mittelmeer.

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Die Staats- und Regierungschefs der 30 NATO-Mitgliedsstaaten nach dem heutigen NATO-Sondergipfel. Foto: NATO

Über die getroffenen Sofortmaßnahmen hinaus – zu ihnen gehört die Stationierung von einhunderttausend US-Soldaten in Europa und die Erklärung höherer Bereitschaftszustände für alle NATO-Truppen – möchte der NATO-Generalsekretär den Auftrag zur Neuausrichtung der alliierten Abschreckung und Verteidigung erhalten. Im russischen Einfall in der Ukraine sieht der Norweger die „wohl größte Bedrohung seit Ende des Zweiten Weltkrieges“, die noch lange nachwirken werde.  Insofern gelte es, den Reset-Knopf zu drücken und über den Charakter von Abschreckung und Verteidigung nachzudenken und auf längere Sicht neu auszurichten. Und daraus Forderungen hinsichtlich der Fähigkeiten und der (Truppen-)Präsenz abzuleiten.

Weitere Unterstützung für die Ukraine und Erwartungen an China

Überdies erwartet der Generalsekretär neue Entscheidungen zur weiteren militärischen Unterstützung der Ukraine. Die Verbündeten hätten neben finanzieller Hilfe Panzerabwehr- und Luftabwehrsysteme, Drohnen, Treibstoff und Munition zur Verfügung gestellt. Er gehe davon aus, dass die Mitgliedsstaaten weitere Unterstützung zusagen werden. In diesem Zusammenhang wies Stoltenberg auf die Hilfe bei der Cybersicherheit hin, sowie zum Schutz gegen chemische, biologische, radiologische und nukleare Bedrohungen.

Auch die Rolle Chinas blieb nicht unerwähnt. Peking, so der NATO-Generalsekretär, habe sich Moskau angeschlossen und das Recht unabhängiger Nationen, ihren eigenen Weg zu wählen, in Frage gestellt. Neben der politischen Unterstützung für Moskau, „unter anderem durch die Verbreitung unverhohlener Lügen und Desinformationen“ gebe es die Sorge, dass China die Invasion in der Ukraine auch materiell unterstützen könnte.

Eine Herausforderung während des heutigen Gipfels wird sicherlich darin bestehen, angemessen auf die zu erwartenden Forderungen des ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj zu reagieren. Er wird sich per Videoschaltung an die Staats- und Regierungschefs der Allianz wenden.

Darüber hinaus sind noch andere Diskussionspunkte virulent. Darunter die von Polen aufgeworfene Idee einer für alle offenen Koalition der Willigen für einem Einsatz in der Ukraine – analog zum Anti-Terror-Einsatz im Irak.

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Bleibt NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg nun doch länger im Amt?, Foto: NATO

Bleibt Jens Stoltenberg länger in Brüssel?

Angesichts des Krieges in der Ukraine haben mehrere NATO-Mitgliedsstaaten den Wunsch geäußert, den Vertrag von Generalsekretär Jens Stoltenberg um mindestens ein weiteres Jahr – bis September 2023 – zu verlängern, anstatt sich auf die Nachfolgersuche einzulassen, die bis zum Gipfel in Madrid im Juni 2022 entscheidungsreif sein sollte. „Diese Entscheidungen wie Ernennung oder Verlängerung des Mandats werden von den Verbündeten getroffen“, sagte Stoltenberg. „Ich konzentriere mich voll und ganz auf den morgigen außerordentlichen NATO-Gipfel und die Bewältigung der größten Sicherheitskrise seit Jahrzehnten.“

Hans Uwe Mergener