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In diesem Frühjahr startete die Ukraine eine Gegenoffensive im Süden des Landes mit dem Ziel, bis zur Küste des Asowschen Meeres vorzustoßen und den Landkorridor im Südosten der Ukraine zu durchtrennen, der das russische Festland mit der besetzten Krim verbindet. Im Vorfeld der Operation gab es in den Medien Spekulationen über den Zeitpunkt des Operationsbeginns. Zudem erwartetetn viele einen schnellen Vormarsch, wie er bei der Befreiung großer Gebiete bei Charkiw und am rechten Ufer des Dnipro im Süden der Ukraine im Jahr 2022 stattgefunden hatte. Diese Erwartungen resultierten aus der Ausbildung ukrainischer Soldatinnen und Soldaten und der Lieferung von gepanzerten Fahrzeugen aus westlicher Produktion. Im Juni 2023 tauchten erste Berichte über verstärkte Kampfhandlungen an der Südfront auf, was viele als Zeichen dafür interpretierten, dass die Gegenoffensive begonnen hatte.

Es kam jedoch nicht zu einem blitzartigen Durchbruch der russischen Verteidigungslinien, da sich die Offensivbemühungen der Ukraine hinzogen. Dies führte zu breiter Kritik an dem Vorstoß, der langsamer als von vielen erwartet ablief. Die russische Propaganda ließ sich diese Gelegenheit nicht entgehen, griff die Welle sofort auf und verbreitete unbestätigte Behauptungen über ukrainische Verluste an Panzern und Personal.

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Bildmaterial des russischen Verteidigungsministeriums, das beschädigte oder zerstörte M2 Bradley- und Leopard 2A6-Panzer zu Beginn der ukrainischen Gegenoffensive im Sommer zeigt. (Russisches Verteidigungsministerium)

Ursachen des langsamen Vormarschs

Im Gegensatz dazu hatten viele Experten keine allzu optimistischen Erwartungen an die Gegenoffensive, da sie sich der Komplexität der Lage bewusst waren. Schließlich hatte das russische Militär im südlichen Teil der Ukraine, wo der Hauptschlag erwartet wurde, genügend Zeit, sich zu verschanzen, da die Ukraine auf die Lieferung der erforderlichen Waffen und die Ausbildung der Truppen warten musste.

Die Hoffnung auf eine schnelle Gegenoffensive wurde auch dadurch genährt, dass westliche Partner die ukrainischen Streitkräfte ausbildeten und ihnen militärische Ausrüstung, darunter auch schwere gepanzerte Fahrzeuge, zur Verfügung stellten. Die von den Partnern gelieferten Panzer übertrafen die sowjetischen Modelle in vielerlei Hinsicht, u. a. in Bezug auf Wartungs- und Nutzerfreundlichkeit sowie Überlebensfähigkeit der Besatzung. Dies zeigte sich bereits in den ersten Wochen der Offensivoperationen. Die dichten Minenfelder sowie das ausgeklügelte Netz von Schützengräben und Sperren hinderten die Ukrainer jedoch daran, die Vorteile der westlichen Technologie voll auszuschöpfen.

Darüber hinaus waren die ukrainischen Kommandeure bei ihren Angriffen auf die russischen Verteidigungslinien sehr darauf bedacht das Leben der eigenen Soldaten zu schützen, im Wissen um die überlegenheit Russlands im Bereich personeler Reserven.

Ein weiterer Grund für den schleppenden Vormarsch ist die fehlende Luftüberlegenheit. Seit Beginn der Offensive haben die russischen Streitkräfte vor allem im Süden Lenkbomben, Splitterbomben und Kampfhubschrauber eingesetzt. Die Ukraine war gezwungen, ihre Flugzeugflotte zu schonen und diese angesichts der begrenzten Fähigkeiten der Kampfflugzeuge aus der Sowjetära nicht zu nahe an die Front herankommen zu lassen. Die westliche Doktrin jedoch geht vom ständigen Einsatz von Flugzeugen zur Unterstützung der Bodentruppen aus, wie es im Irak der Fall war.

In Anbetracht der Tatsache, dass die von den westlichen Partnern zur Verfügung gestellten schweren Panzer ebenfalls eher begrenzt waren, entschieden die ukrainischen Befehlshaber, dass es zu riskant sei, diese Panzer direkt an die Front zu schicken. Daher passte das ukrainische Militär nur wenige Wochen nach Beginn der Angriffsoperationen seine Strategie an, um die eigenen Verluste zu minimieren und gleichzeitig die russischen Truppen durch Artillerie- und Langstreckenraketenangriffe weiter zu schwächen.

Abhängig von westlicher Unterstützung

Ausgehend von diesen Überlegungen geben die jüngsten Geschehnisse an der Saporischschja-Front Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Gleichzeitig ist klar, dass die Russen alles geben, um ihre Stellungen zu halten. Ein Erfolg ukrainischer Streitkräfte in diesen Gebieten wird die Umsetzung der ursprünglichen Ziele der so genannten „militärischen Spezialoperation“ Russlands in der Ukraine weiter in Frage stellen.

In der Zwischenzeit arbeitet der Kreml daran, das Besatzungsregime in den besetzten Gebieten zu legitimieren. Auch Scheinwahlen wurden abgehalten. Sollten Städte wie Tokmak von der Ukraine belagert oder gar zurückerobert werden, wäre dies ein schwerer Schlag für den Ruf Moskaus, denn die einzige Stadt, die Russland während der Offensive zwischen Winter 2022 und Frühjahr 2023 einnehmen konnte, war Bakhmut in der Region Donezk.

Es muss auch darauf hingewiesen werden, dass unklar ist, wie stark Russlands Reserven in der südlichen Operationszone sind. Die Hauptverteidigungskräfte sind in den Gebieten der ukrainischen Offensive zusammengezogen worden. Dies wirft die Frage auf, ob die russischen Kräfte in der Lage sein werden, die Verteidigung aufrechtzuerhalten, wenn die Ukrainer die Hauptverteidigungslinie durchbrechen. Außerdem wurden nach dem Erhalt von Storm Shadow und SCALP-Marschflugkörpern durch die Ukraine relativ häufig russische Hochwertziele angegriffen.

Auch wenn der Optimismus für die ukrainische Gegenoffensive vorerst geschwunden ist, würde ihr Erfolg nicht den endgültigen Sieg bedeuten. Erstens ist das Ergebnis der Bemühungen nach wie vor unklar. Zweitens deuten Äußerungen russischer Offizieller darauf hin, dass Moskau seine Militäraktion keineswegs einstellen wird, zumindest nicht in diesem Winter und im kommenden Frühjahr. Diese Position könnte sich jedoch ändern, wenn die russischen Streitkräfte nicht in der Lage sind, die derzeit von ihnen besetzten Gebiete zu verteidigen und sich zurückzuziehen. Dieses Szenario könnte sich beschleunigen, wenn die westlichen Partner der Ukraine taktische ballistische ATACMS-Raketen und F-16-Kampfflugzeuge liefern, wie sie es angekündigt haben. Glücklicherweise haben die Verbündeten der Ukraine zu verstehen gegeben, dass sie die Bedeutung dieser Waffenlieferungen für die Kriegsanstrengungen der Ukraine verstanden haben.

Alex Horobets