Die Kertsch-Brücke – Eine Achillesferse der russischen Logistik
Brigadegeneral a. D. Heinrich Fischer
Vor nunmehr zwei Jahren griff Russland die Ukraine völkerrechtswidrig an. Mit der im Juni 2023 begonnenen Gegenoffensive konnte die Ukraine ihr Ziel, im Süden die Landbrücke zur Krim zu unterbrechen, die russischen Versorgungslinien zu durchtrennen und mit einem Vorstoß bis zum Asowschen Meer die russischen Kräfte auf dem Kriegsschauplatz Ukraine zu spalten, noch nicht erreichen.
Die ukrainische Gegenoffensive im Süden blieb nach ca. 20 Kilometern Geländegewinn in den Feldbefestigungen der Surowiki-Linie liegen. Der russischen Seite gelingen im Donbas trotz unverhältnismäßig hoher Verluste nur marginale Geländegewinne. Offensichtlich auf seine Ressourcenüberlegenheit vertrauend, scheint Russland auf einen längeren Abnutzungskrieg zu setzen. Verbunden damit ist die Hoffnung, dass die westliche Unterstützung der Ukraine einbricht.
In der Ukraine findet somit zurzeit ein verlustreicher Stellungs- und Abnutzungskrieg statt.
Komplementär zum Einsatz der Landstreitkräfte führt die Ukraine eine erfolgreiche „Strike Campaign“ auf taktischer, operativer und strategischer Ebene. Sie hat zum Ziel, das gegnerische Kräftepotential durch indirektes Feuer in der Tiefe des gegnerischen Raumes zu bekämpfen und abzunutzen. Damit schafft die „Strike Campaign“ wesentliche Voraussetzungen gegen einen quantitativ überlegenen Gegner in der Verteidigung zu bestehen und möglicherweise die Initiative für eine Offensive wieder zu gewinnen.
Zu dem vielseitigen und breit gefächerten Zielspektrum der „Strike Campaign“ gehört u. a. auch die Verkehrsinfrastruktur mit ihren Straßen, Eisenbahnlinien, Brücken, Flugplätzen Häfen und Seewegen.
Die Kertsch-Brücke, auch Krim-Brücke genannt, ist in diesem Zusammenhang von überragender Bedeutung. Nicht ohne Grund rief der ukrainische General Dmytro Martschenko die Kertsch- Brücke als „Ziel Nummer eins“ aus.
Das Brückenbauwerk
Die Kertsch-Brücke verbindet die Halbinsel Krim über der Straße von Kertsch mit der Halbinsel Taman in der russischen Region Krasnodar. Die Straße von Kertsch ist die Seeverbindung zwischen dem Schwarzem Meer und dem Asowschen Meer. Einschließlich der Zufahrten an Land ist die Brücke rund 19 Kilometer lang und überquert die Straße von Kertsch, die Insel Tusla, einen Flachwasserbereich und die Nehrung der Halbinsel Taman.
Die Kertsch-Brücke besteht aus einem Brückenbauwerk für eine vierspurige Autobahn und einem gesonderten Bauwerk für eine parallel verlaufende zweigleisige Eisenbahnlinie. Der Schifffahrtskanal in der Straße von Kertsch wird von zwei 227 Metern langen Stabbogenbrücken mit einer lichten Höhe von 35 Metern überspannt.
Die Autobahnbrücke ist 16.8 Kilometer lang und hat durch Leitplanken getrennte Richtungsfahrbahnen mit jeweils zwei Fahrspuren. Jede Richtungsfahrbahn hat einen konstruktiv getrennten Überbau aus einer orthotropen Platte auf zwei Lastenträgern. Die Eisenbahnbrücke ist 18,2 Kilometer lang, und ihre Gleise liegen auf Schotterbetten und je einem Überbau aus stählernen, zweizelligen Hohlkästen mit orthotropen Platten. Die Brücken stehen auf 595 Pfeilern mit einem Abstand von 54 bis 64 Metern, die auf rund 7.000 Pfählen gegründet sind. Damit ist das Brückenwerk das längste in Europa. Die Bauzeit betrug vier Jahre (2015 bis 2019). Der Baupreis belief sich auf 3,6 Milliarden US-Dollar.
Die strategische Bedeutung
Die strategische Bedeutung der Kertsch-Brücke hat eine politische, eine wirtschaftliche und vor allem eine militärische Dimension. Am 15. Mai 2018 überquerte Putin am Steuer eines orange-leuchtenden Lastkraftwagens mit russischen Flaggen an den Seitenspiegeln die Kertsch-Brücke, um dann bei der Eröffnungszeremonie festzustellen: „Und jetzt ist das Wunder geschehen.“ Die Brücke gilt damit als persönliches Prestigeobjekt des russischen Präsidenten. Sie soll nicht nur die 2014 völkerrechtswidrig annektierte Krim mit dem russischen Festland verbinden, sondern auch den russischen Anspruch auf die ukrainische Halbinsel zementieren. Daraus erwächst ihr politisch hoch symbolträchtiger Wert.
Als Folge der russischen Annexion der Krim unterbrach die Ukraine im Dezember 2014 alle bisher durch ihr Gebiet laufenden Versorgungslinien sowie die Zug- und Busverbindungen über Land zur Krim. Der Personen- und Güterverkehr zwischen Russland und der Krim musste seither über den See- und Luftweg abgewickelt werden. Aus wirtschaftlichen Gründen und zur Herstellung einer direkten Transportverbindung zwischen Russland und der Krim gewann das Brückenprojekt über die Straße von Kertsch höchste Dringlichkeit. So sollte der nach der Annexion der Krim eingebrochene Tourismus wieder angekurbelt und die stark gestiegenen Lebensmittelpreise gesenkt werden. Weitere wirtschaftliche Auswirkungen hat der Bau der Brücke auf den internationalen und ukrainischen Schiffsverkehr im Asowschen Meer. Für die ukrainische Wirtschaft haben das Asowsche Meer mit den beiden Häfen in Mariupol und Berdjansk eine große Bedeutung. Aufgrund der Brückenkonstruktion kann sie nur von Schiffen bis zu einer Höhe von 33 Metern passiert werden. Das bedeutet, dass nur sogenannte „Handysize-Schiffe“, d. h. Schüttgutfrachter und Tanker bis 35.000 Tonnen, die Häfen Mariupol und Berdjansk anlaufen können. Diese Beschränkungen in der Schifffahrt bedeuten für die ukrainische Wirtschaft einen jährlichen Verlust von 20 bis 40 Millionen US Dollar.
Die Halbinsel Krim ist für die russische Kriegführung in der Ukraine von militärstrategischer Bedeutung. Sie beherbergt in dem Hafen von Sewastopol nicht nur die russische Schwarzmeerflotte, sondern wichtige Führungseinrichtungen, Luftverteidigungsanlagen und vor allem eine unverzichtbare logistische Infrastruktur mit Depots, Lagern, Versorgungs- und Umschlagknoten sowie Eisenbahn- und Straßentransportlinien. Aus dieser logistischen Basis erfolgt die Versorgung der im Süden der Ukraine vor allem im Raum südlich Cherson und der angrenzenden Region Saporischja eingesetzten russischen Truppen mit Mengenverbrauchsgütern und anderen Versorgungsartikeln.
Auch zur Kräftegenerierung und Bereitstellung von Reserven wird die Krim genutzt. Die Krim wird in ihrer Rolle als logistische Basis über zwei Versorgungslinien genährt. Einmal handelt es sich dabei um eine Landlinie, die im Zuge der Fernstraße M 14 in Ost-West-Richtung verläuft. Sie bildet einen „logistischen Korridor“ zwischen Asowschen Meer und M 14. Diese Versorgungslinie kann an kritischen Engstellen, wie z. B. der Chonarbrücke unterbrochen werden und gerät bei entsprechender Lageentwicklung in die Reichweite der ukrainischen Artillerie. Die zweite Versorgungslinie führt über die Kertsch-Brücke, die es aufgrund ihrer Eisenbahnlinie ermöglicht, Versorgungsgüter direkt nach vorn an die Front in die Umschlagknoten zuzuführen.
Wird eine oder sogar beide der Verbindungslinien unterbrochen bzw. ausgeschaltet und so die logistische Sicherstellung der im Süden eingesetzten russischen Truppen nicht mehr gewährleistet ist, hat das ernsthafte Konsequenzen für die Operationsführung und führt letztendlich zum Abbruch des Gefechts. Aus diesem Zusammenhang erschließt sich die überragende militär-strategische Relevanz der Kertsch-Brücke.
Bekämpfungsoptionen
Im Verlaufe des Krieges in der Ukraine wurde die Kertsch-Brücke bisher zweimal bekämpft.
Am 8. Oktober 2022 kam es auf der Autobahnbrücke in Fahrtrichtung Kertsch zu mehreren Explosionen. Sie wurden durch einen mit Sprengstoff beladenen Lkw ausgelöst. Dadurch wurden gleichzeitig auf der parallel verlaufenden Eisenbahnlinie im selben Abschnitt sieben mit Dieselkraftstoff beladene Eisenbahnkesselwagen in Brand gesetzt. Dieser Angriff führte zu spürbaren Einschränkungen in der Nutzung der Brücke bis zum Abschluss der Reparaturarbeiten im Februar 2023.
Während Putin sofort den ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU für den Angriff verantwortlich machte, stritten die ukrainischen Behörden ihre Beteiligung zunächst ab, um sich dann aber später doch zur Urheberschaft zu bekennen.
In der Nacht zum 17. Juli 2023 erfolgte der zweite Angriff auf das Brückenbauwerk auf halber Strecke zwischen der Halbinsel Taman und der Insel Tusla in der Straße von Kertsch.
Diesmal detonierten die Sprengsätze von unten, also vom Wasser aus. Dies lässt darauf schließen, dass die Sprengsätze mit unbemannten Wasserdrohnen verbracht wurden. Durch die Explosion sackte auf der Autobahn die Fahrbahn in einer Fahrtrichtung ab und wurde auch in der anderen Fahrtrichtung beschädigt. Die parallel zur Autobahn verlaufende Eisenbahnlinie blieb intakt und wurde am nächsten Morgen bereits wieder für den Verkehr freigegeben. Die Freigabe der Autobahn erfolgte einige Tage später. Dieses Mal bekannten sich nach kurzer Zeit der ukrainische Geheimdienst und die ukrainische Marine zu dem Anschlag.
Beide Angriffe haben verdeutlicht, dass ein längerfristiges Ausschalten oder sogar eine
Zerstörung aufgrund der Konstruktion des Brückenbauwerks mit den verfügbaren Mitteln problematisch ist. Die inklusive Auffahrten rund 19 Kilometer lange Brücke muss punktgenau getroffen werden, damit bei einem Raketenangriff der Sprengkopf nicht an der Oberfläche verpufft oder erst unter der Brücke detoniert. Diesem Anspruch werden die derzeitigen Waffensysteme der Ukraine nicht gerecht.
Die sicherste Methode die Brücke auszuschalten wäre die Anbringung von ausreichend dimensionierten Sprengladungen unmittelbar an den Schwachstellen des Brückenbauwerks mit anschließender Sprengung, wie man es von kontrollierten Zivilsprengungen kennt.
Diese Lösung ist aber aufgrund der starken militärischen Sicherung der Brücke durch Kräfte der russischen Grenztruppen, der Geheimdienste und der Luftverteidigung fast unmöglich geworden.
Die Bekämpfungsmittel mit der größten Erfolgswahrscheinlichkeit sind aufgrund ihrer
Reichweite, Durchsetzungsfähigkeit, Präzision und Sprengkraft das ATACMS (Army
Tactical Missile System) und der Taurus (Target Adaptive Unitary and Dispenser
Robotic Ubiquity System).
Der ATACMS in der Version MGM-164 ATACMS 2000 hat eine Reichweite von bis zu 300 Kilometern und verfügt bei einer Zielgenauigkeit von 10 bis 20 Metern über einen 215 kg schweren Penetrations -und Splittergefechtskopf.
Der Taurus in der Version KEPD-350 (Kinetic Energy Penetrator and Destroyer) hat eine Reichweite von bis zu 500 Kilometern, trifft punktgenau und trägt einen 480 kg schweren Vorhohlladungs- und Penetrationsgefechtskopf. Dieser Sprengkopf verleiht dem Taurus eine hohe Wirksamkeit gegen feste und gehärtete Ziele.
Beide Systeme – den politischen Willen vorausgesetzt – könnten der Ukraine durch die USA und Deutschland zeitnah bereitgestellt werden.
Mit dem HIMARS (High Mobility Artillery Rocket System) und dem MLRS (Multiple Launch Rocket System) verfügt die ukrainische Armee über die für den Einsatz von ATACMS geeigneten Trägermittel. Bei den bisher durch die Ukraine eingesetzten ATACMS handelt es sich um Raketen mit einer Reichweite von bis zu 165 Kilometern und einem Gefechtskopf mit Streumunition.
Diese Version der ATACMS ist für die Bekämpfung von Infrastrukturzielen nicht geeignet.
Die notwendige Umrüstung eines geeigneten Flugzeugmusters und die erforderliche Ausbildung zur Verbringung des Marschflugkörpers Taurus lässt sich ebenfalls in einem vertretbaren Zeitraum realisieren.
Wird die Fähigkeit zum Zerstören der Kertsch-Brücke mit ATACMS und Taurus den ukrainischen Streitkräften bereitgestellt, so wird es ihnen gelingen, die russischen Truppen im Süden von ihrer Logistik abzuschneiden und sie bei Munition, Treibstoff und Verpflegung auszuhungern. In der Konsequenz folgt der Abbruch der Gefechtshandlungen. Diese Vorgehensweise ist in nächster Zukunft möglich, weitgehend witterungsunabhängig, schont kostbare ukrainische Personalressourcen und schafft die Voraussetzungen für eine mögliche Wiederaufnahme der Initiative in der Landkriegführung. Zudem wäre die Zerstörung der Kertsch-Brücke aufgrund ihrer hohen symbol-politischen Bedeutung eine persönliche Niederlage für Putin.
Zusammenfassung
Neben der politischen und wirtschaftlichen hat die Kertsch-Brücke eine überragende
militär-strategische Bedeutung. Sie ist die wesentliche Lebensader für die Krim in ihrer Rolle als logistische Basis für die im Süden der Ukraine eingesetzten russischen Truppen.
Wird die Brücke zerstört, ist es um die Einsatzbereitschaft der russischen Truppen im Süden geschehen.
Die Werkzeuge das Brückenbauwerk zu zerstören sind mit ATACMS und Taurus verfügbar.
Diese der Ukraine bereitzustellen, hängt nur von politischen Entscheidungen in den USA und in Deutschland ab. Folgt man der Zielsetzung Putins, dann drängt die Zeit. Nur ein baldiger militärischer Erfolg der Ukraine wird das russische imperiale Machtstreben eindämmen, weiteres Blutvergießen verhindern und die Abschreckung in Europa wieder herstellen.
Am 13. Dezember 2023 stellte Bundeskanzler Scholz fest: „Wir stehen eng an der Seite der Ukraine in ihrem Verteidigungskampf gegen Russland!“ Herr Bundeskanzler, ich nehme Sie ernst. Stimmen Sie endlich der Unterstützung der Ukraine mit Taurus zu.
Brigadegeneral a. D. Heinrich Fischer war zuletzt Kommandeur Heeresschulen und Stellvertretender Amtschef des Heeresamtes.