Chinas ballistisches Raketenprogramm
Markus Schiller
Das chinesische Programm zur Entwicklung ballistischer Raketen ist in voller Fahrt. In wenigen Jahren werden die Fähigkeiten des Landes mindestens gleichauf mit denen der USA und Russlands sein, so die Prognose von Markus Schiller. Im Beitrag geht der Analyst auf die Ursprünge und den Verlauf des chinesischen ballistischen Raketenprogramms ein, wobei es sich hier um Auszüge aus seinem umfangreicheren Report für das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) handelt.
Erste Berichte zur Nutzung von raketen-ähnlichen Flugkörpern als Waffe in China stammen aus dem 13. Jahrhundert. China kann daher auch als „Wiege der Raketentechnik“ bezeichnet werden. Der Durchbruch zur modernen, leistungsfähigen Raketentechnik, nutzbar für weitreichende Waffen oder auch für die Raumfahrt, erfolgte jedoch erst viele Jahrhunderte später in Europa. Die den modernen Raketen zugrundeliegenden Technologien fanden erst kurz nach Ende des 2. Weltkriegs ihren Weg zurück ins Reich der Mitte. Heute ist China eine der führenden Nationen auf dem Gebiet der Raketentechnik, was sich an vielfältigen erfolgreichen zivilen wie militärischen Programme ablesen lässt.
Ursprünge der Raketenentwicklung
Aus technologischer Sicht lässt sich der Beginn moderner chinesischer Raketenprogramme auf das Jahr 1956 datieren. Zu diesem Zeitpunkt begann mit der Übergabe von ballistischen Raketen des Typs R-1/SS-1 eine fruchtbare Zusammenarbeit Chinas mit der Sowjetunion auf dem Raketensektor. Zwar blieb dieser Transfer zunächst folgenlos, der nachfolgende Transfer der R-2 ab 1957 führte aber zur Initiierung des Projekts 1059, der ersten chinesischen „Eigenentwicklung“. Massive sowjetische Unterstützung ermöglichte in diesem Rahmen eine Lizenzfertigung der R-2, welche Jahre später als DF-1 bezeichnet werden sollte.
Nach dem Zerwürfnis zwischen China und der Sowjetunion endete nach allgemeiner Auffassung um 1960 die Kooperation auf dem Raketensektor, doch die technologische Nähe chinesischer und sowjetischer Raketen späterer Generation lässt vermuten, dass hier noch ein Austausch stattfand.
1960 begann man mit den Arbeiten an einer weiteren Rakete mit ca. 2.800 km Reichweite, die später als DF-3 bezeichnet werden sollte. Diese war eng an die sowjetische R-12/SS-4 angelehnt. Parallel begannen auch die Arbeiten an der DF-2 mit gut 1.200 km Reichweite.
Nach einem Fehlstart 1962 wurde diese zur DF-2A umgearbeitet, und 1965 erfolgreich getestet; im Oktober 1966 wurde damit erstmals eine echte Atomwaffe zu Testzwecken verschossen.
Diese Erfolge ermutigten China zur Entwicklung einer eigenen Interkontinentalrakete. 1965 wurde ein „Acht-Jahres-Plan zur Entwicklung von Raketentechnologien“ initiiert, der die bereits existierende DF-2 ebenso miteinschloss, wie die Konzepte zu den leistungsfähigeren Raketen DF-3, DF-4 und DF-5. All diese Raketen sollten weiterhin Flüssigkeitsmotoren nutzen.
Die ersten Anläufe zu Feststoffmotoren erfolgten schon ab 1966 mit der Entwicklung eines kleinen Motors, der später als Drittstufe auf der Raumfahrtrakete Langer Marsch 1 eingesetzt werden sollte. Bereits 1967 begann man mit der Entwicklung größerer Feststoffmotoren, die für eine konzipierte zweistufige U-Bootrakete namens JL-1 genutzt werden sollten. Chinas Wechsel von Flüssigkeitsraketen zur Feststofftechnologie erfolgte aber erst später.
Die Entwicklung der Flüssigkeitsraketen des Acht-Jahres-Planes von 1965 verlief erfolgreich. Der erste Test der DF-3 konnte Ende 1966 durchgeführt werden, ab 1971 wurde sie bei der Truppe eingeführt, und 1985 erfolgte der erste Test einer verbesserten Version DF-3A, welche 1987 Einsatzbereitschaft erreichte.
Die DF-4 wurde ab 1965 zunächst auf eine Reichweite von 4.000 km ausgelegt. Die Eskalation des Konflikts mit Russland 1969 führte trotz eines erfolgreichen Erstflugs 1970 zu einer Überarbeitung des Konzepts, um mit der erhöhten Reichweite von 4.500 km auch Moskau erreichen zu können. Diese Änderung und die ab 1966 stattfindende Kulturrevolution verzögerten die Entwicklung, und die DF-4 konnte erst im November 1980 für operationell erklärt werden. Die letzten DF-4 wurden vermutlich inzwischen ausgemustert. Noch während der Entwicklungsphase wurde ein Prototyp der DF-4 genutzt, um 1970 mit einer zusätzlichen dritten Stufe ausgestattet als Langer Marsch 1 Chinas ersten Satelliten erfolgreich in eine Erdumlaufbahn zu bringen.
Die vierte Rakete im Entwicklungsplan, die DF-5, ist Chinas erste echte Interkontinentalrakete. Aufgrund ihrer Größe wurde sie für die Stationierung in Silos ausgelegt. Ein erster Test fand 1971 statt, erfolgreiche Tests über die volle Reichweite jedoch erst ab 1980. Auch die Silos bereiteten offenbar Schwierigkeiten. Erst Mitte 1981 gingen die ersten beiden Silos in den operationellen Status über. Der „Acht-Jahres-Plan“ von 1965 war damit erst nach der doppelten Zeit abgeschlossen.
Im November 1983 begannen die Arbeiten zur Leistungssteigerung der DF-5, die 1986 zur Entwicklung der DF-5A führten, von der 1992 vier Einheiten operationsreif waren. 2015 wurde dann erstmals eine weitere Version namens DF-5B im Rahmen einer Militärparade der Öffentlichkeit vorgeführt. Diese soll im Gegensatz zu den Vorgängerversionen mit Mehrfachgefechtsköpfen ausgestattet sein; eine weitere, nochmals verbesserte Version namens DF-5C soll sich in Entwicklung befinden und bereits 2017 erstmals getestet worden sein. Während die DF-5 und die DF-5A mit nuklearen Einzelgefechtsköpfen ausgestattet sein sollen, soll die DF-5B drei nuklear bewaffnete Wiedereintrittskörper tragen, die DF-5C sogar bis zu zehn. Die DF-5 ist auch die Basis für die Raumfahrtträger der Serie Langer Marsch 2, und damit auch für die Serien Langer Marsch 3 und 4.
Wechsel auf Feststoff
Waren bis zur DF-5 alle Neuentwicklungen Flüssigkeitsraketen, so schwenkte China Anfang der 1980er-Jahre komplett auf Feststofftechnologie um.
Bereits 1967 begann die Entwicklung der U-Boot-Feststoffrakete JL-1. 1975 wurde gefordert, dass die JL-1 auch als landgestützte Version verfügbar sein solle, und 1978 wurde der erste Motor dieser Entwicklung erfolgreich getestet und die landgestützte Version forciert, die den Namen DF-21 erhielt. 1982 erfolgte ein erster erfolgreicher Flugtest der JL-1, und bereits im August 1983 wurde sie für operationell erklärt. Der erste erfolgreiche Flug einer DF-21 folgte 1985. Im selben Jahr wurde das erste operationelle DF-21-Regiment aufgestellt.
Parallel dazu hatte man seit 1970 über eine größere Feststoffrakete nachgedacht. Ab 1978 wurde ernsthaft unter der Bezeichnung DF-23 daran gearbeitet. Nach dem erfolgreichen Abbrand eine Feststoffmotors mit 2 m Durchmesser i1983 wurde der Wechsel von Flüssigkeits- zu Festtreibstoffen sowie von strategischen zu taktischen Raketenwaffen forciert. 1985 wurde das Projekt in DF-31 umbenannt und mit einer U-Boot-gestützten Variante namens JL-2 als Nachfolgeprogramm der zweistufigen DF-21/JL-1 priorisiert.
Ab 1986 wurden Pläne zur Entwicklung einer leistungsfähigeren Feststoffrakete vorangetrieben. Die mobile DF-41 sollte mit einer Reichweite von 12.000 km spätestens bis 2010 die flüssigkeitsgetriebene DF-5 ablösen. Eine mobile ICBM-Flotte erschien durch den Umstieg auf Feststofftechnologie realisierbar, auch sollten geplante Infrastrukturmaßnahmen das chinesische Straßennetz tauglich machen für das zu erwartende Gewicht der mobilen ICBM-Startrampen.
Außerdem hatte man bereits 1981 eine leistungsgesteigerte Variante der DF-21 gefordert.
Im Juli 1986 begann das Programm zur DF-21A, wobei unter anderem die Strukturmasse verringert und die Treibstoffmasse erhöht werden konnte. 1991 fand der erste bekannte Flugtest statt, ab 1996 begann man mit dem Ersatz bereits aufgestellter DF-21 durch die neue DF-21A.
Taktische Raketen
Ab 1979 wurde die Industrie dazu angehalten, mit zusätzlichem zivilem Geschäft die militärischen Programme zu unterstützen. Auch der Verkauf militärischer Güter auf internationaler Bühne wurde weitgehend frei von bisherigen ideologischen Überlegungen unterstützt. Die 1985 angekündigte Reduzierung staatlicher Mittel für Forschung und Technologie und der Erfolg der sowjetischen Scud B als Exportschlager im Nahen Osten führte zum Entschluss, eine neue Klasse taktischer Raketen zu entwickeln, die in Leistung und Bedienbarkeit die in den 1950er-Jahren entwickelte Scud B deutlich übertreffen würde.
Dazu reichte man 1984 Vorschläge zur Entwicklung der später als DF-15 und DF-25 bezeichneten Raketen ein. Mit einer anvisierten Reichweite von 1.700 km bei einer Nutzlast von 2.000 kg hätte die zweistufige DF-25 nach chinesischem Verständnis strategische Reichweite gehabt, der konventionelle Gefechtskopf machte sie jedoch aus Nutzersicht zur taktischen Waffe. Die DF-15 hingegen war auf deutlich kürzere Reichweiten ausgerichtet und firmierte als Exportversion auch unter dem Titel M-9. Der Vorschlag hierzu sah die Entwicklung einer konventionell bewaffneten einstufigen Feststoffrakete mit 600 km Reichweite für den Export vor, und 1985 begann die Entwicklung der M-9. Die Volksbefreiungsarmee wurde auf das Projekt aufmerksam, und 1986 wurde das Programm der M-9 den DF-Programmen unter dem Kürzel DF-15 hinzugefügt. Der Schwerpunkt der Entwicklung sollte jedoch weiterhin auf der Exportversion liegen. Bereits vor ihrem ersten Test 1988 wurde mit Syrien ein Memorandum über den Kauf der M-9 unterzeichnet.
Weitere Exemplare gingen Anfang der 1990er nach Pakistan. Parallel dazu wurde im August 1991 mit der DF-15 Chinas erste konventionell bestückte Raketenbrigade aufgestellt.
Parallel zur M-9/DF-15 begann man 1985 mit der Entwicklung einer ebenfalls einstufigen Feststoffrakete mit zunächst anvisierten 300 km Reichweite, was exakt der Reichweite des sowjetischen Verkaufsschlagers Scud B entsprach (auch der Durchmesser dieser Rakete war mit 0,88 m identisch mit dem der Scud). Diese Rakete wurde in der Exportversion als M-11 bezeichnet. Die Volksbefreiungsarmee fand ebenfalls schnell Gefallen an dem Projekt, das sie als DF-11 bezeichnete. Das Programm lief der M-9 etwa zwei Jahre hinterher, und ein erfolgreicher Test erfolgte Mitte 1990. Bereits Anfang 1991 sollen die ersten M-11 an Pakistan geliefert worden sein.
Im Februar 1992 erklärte China auf Druck der USA, dass man sich den Regeln des Missile Technology Control Regime (MTCR) beugen wolle und deswegen keine Raketen mit einer Wurfleistung von mehr als 500 kg über eine Distanz von mehr als 300 km mehr exportieren werde. Volles Mitglied im MTCR ist China bis heute nicht.
Neuere Entwicklungen
Die Quellenlage zu den Entwicklungen ab den frühen 1990er-Jahren ist deutlich dürftiger.
Außerdem sind viele der ab 1992 begonnenen Entwicklungen heute operationell oder im Zulauf, so dass Geheimhaltung für chinesische Stellen bei diesen Programmen einen höheren Stellenwert haben dürfte, was sich auf die Verfügbarkeit von Informationen auswirkt.
So wurde beispielsweise die DF-11 offenbar 1992 in Dienst gestellt, und ab 1993 begann man bereits mit einer Weiterentwicklung zur DF-11A. Der Erstflug erfolgte 1997, noch bevor die Existenz des Programms 1998 öffentlich bekannt wurde. Schon 1999 erfolgte die Übernahme durch die Volksbefreiungsarmee.
Auch bei der DF-15 – zunächst als Exportversion M-9 begonnen – wurden über die Jahre weitere Versionen entwickelt und eingeführt. Die Quellenlage hierzu ist schlecht und teils widersprüchlich. Die Version DF-15A soll 1996 in Dienst gestellt worden sein und auch mit Kernwaffen ausgerüstet werden können. Die DF-15B wurde 2009 erstmals auf einer Parade vorgeführt und soll einen auffälligen Doppelkegel-Gefechtskopf mit Leitwerken besitzen.
Inzwischen scheint die modernere DF-16 die DF-15 abzulösen. Dabei handelt es sich um ein System, das 2011 oder 2012 eingeführt worden sein soll und das rein äußerlich der DF-15 stark ähnelt, nur dass es keinerlei Leitwerke mehr besitzt, was auf ein fortgeschrittenes Lenk- und Steuersystem hinweist. Eine weitere Version mit manövrierbarem Gefechtskopf, vermutlich DF-16A, konnte Anfang 2017 auf einem Video eines chinesischen Manövers identifiziert werden.
Währenddessen wurde 1999 die bereits erwähnte DF-31 auf einer Parade der Öffentlichkeit vorgestellt, und 2006 soll diese schließlich in Dienst gestellt worden sein. Verbesserte Versionen namens DF-31A und DF-31AG folgten. Parallel zur DF-31 wurde auch die U-Boot-Version namens JL-2 entwickelt und im Juni 2005 erfolgreich getestet. Seit 2015 führen US-amerikanische und britische Quellen die JL-2 als operationell.
Die seit den 1980er-Jahren verfolgte DF-41 wurde 2019 erstmals der Öffentlichkeit vorgeführt. Neben der existierenden straßenmobilen Version sollen auch Varianten zur Stationierung in Silos und auf der Schiene in Planung sein.
Weitere Systeme wie DF-21B, DF-21C, DF-21D und das Hyperschallsystem DF-17 würden den Rahmen der vorliegenden Ausführungen sprengen. Die DF-26 soll jedoch hier erwähnt werden, die allein durch ihre Stückzahlen in den kommenden Jahren eine dominante Rolle spielen wird. Die Entwicklung begann vor 2010, und ab 2012 zirkulierten erste Bilder bei chinesischen Quellen. 2014 bestätigten US-amerikanische Geheimdienstquellen die Existenz des Systems. Es handelt sich um eine zweistufige Feststoffrakete auf einer hochmobilen sechsachsigen Abschussrampe. Die DF-26 wurde 2015 erstmals öffentlich vorgestellt und ab 2016 operationell aufgestellt. Sie kann sowohl nuklear als auch konventionell bewaffnet werden. Auch eine Anti-Schiffs-Version der DF-26 ist operationell.
Es kündigen sich bereits weitere Systeme in der nahen Zukunft an, unter den Kürzeln DF-27, JL-3 oder auch als namenlose Prototypen.
In jedem Fall ist weiterhin eine rasante Entwicklung im Bereich chinesischer Raketenwaffen zu erwarten. Allein im Jahr 2021 startete die Volksbefreiungsarmee etwa 135 ballistische Raketen zu Test- und Übungszwecken – mehr als der Rest der Welt zusammen.
In Verbindung mit dem Aufwuchs an Brigaden und operationellen Systemen ergibt sich ein konsistentes Bild einer aufstrebenden Raketenmacht China, die sich in wenigen Jahren mindestens auf Augenhöhe mit Russland und den USA befinden wird.
Dr. Markus Schiller ist Geschäftsführer der Münchener Firma ST Analytics sowie Associate Senior Researcher am SIPRI.
Dieser Text stellt einen stark verkürzten Auszug aus dem IFSH Research Report #013 dar, der unter dem Titel „Der große Sprung? Chinas ballistisches Raketenprogramm“ im Juni 2024 beim Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) im Rahmen des „Forschungs- und Transferprojekts Rüstungskontrolle und Neue Technologien“, das vom Auswärtigen Amt gefördert wird, veröffentlicht wurde. Der Report ist auf der Website des IFSH frei verfügbar.