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Für mediales Aufsehen im deutschsprachigen Raum sorgt ein angeblich internes Strategiepapier des Kreml aus dem Sommer 2021, wonach Belarus bis 2030 in einem großrussischen „Unionsstaat“ einverleibt werden solle. Laut einer Meldung von tagesschau.de vom 21. Februar liegt dieses Papier dem WDR, NDR und der Süddeutschen Zeitung vor. Die drei deutschen Medien gehören zu einem internationalen Rechercheteam, das auch aus Pressevertretern aus Estland, Russland (aus dem britischen Exil heraus), Schweden, Ukraine, USA, den VisegrádStaaten und Weißrussland (aus dem tschechischen Exil heraus) besteht.

Dieses Strategiepapier stammt angeblich aus einer Unterabteilung der russischen Präsidialverwaltung, die sich „Direktion Grenzübergreifende Zusammenarbeit“ nennt, deren Aufgabe es sei, Konzepte zu entwickeln, wie Russland seinen Einfluss und die Kontrolle über seine Nachbarländer kontinuierlich ausbauen könne. Dazu zählten etwa das Baltikum, die Ukraine, aber auch Belarus. Mehrere Quellen in westlichen Geheimdiensten – ohne dass öffentlich bekannt ist, um wen es sich dabei handelt – sollen das interne Dokument als authentisch und plausibel einschätzen.

Detailliert werde in dem Strategiepapier beschrieben, wie Putins Russland mit politischen, wirtschaftlichen und militärischen Mitteln schrittweise die Kontrolle über Belarus erlangen könnte. So solle das Land zu einem Bollwerk gegen die Atlantische Allianz werden. Schließlich grenzt Weißrussland direkt an die NATO-Staaten Lettland, Litauen und Polen, getrennt von der russischen Exklave Kaliningrad nur durch die sogenannte Suwalki-Lücke.

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Russische Raketenwerfer schießen scharf. (Foto: Verteidigungsministerium der Russischen Föderation)

Schon jetzt ist die politische und wirtschaftliche Abhängigkeit der Staatsführung in Minsk von Russland enorm. Erschwerend kommt seit dem Ukrainekrieg hinzu, dass aktuell schon zwischen 10.000 und 11.000 russische Soldaten auf weißrussischem Staatsgebiet stehen sollen.

Hintergrund

Die Russische, Ukrainische und Weißrussische Sowjetrepublik machten zusammen die slawischen Kernstaaten der 1922 gegründeten UdSSR aus. 1991 schlossen sich im belarussischen Wiskuli die unabhängig gewordenen ehemaligen Sowjetrepubliken Russland, Ukraine und Weißrussland zur Regionalorganisation „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ (GUS) zusammen, der später weitere Ex-Sowjetrepubliken beigetreten sind.

Die offenkundig manipulierten weißrussischen Präsidentschaftswahlen vom August 2020 hat Amtsinhaber Alexander Lukaschenko offiziell mit 80,08 Prozent gewonnen. Deshalb protestierten wochenlang Hunderttausende Menschen im ganzen Land gegen seine angebliche Wiederwahl. Letztlich konnte sich Lukaschenko nur mit Hilfe aus Moskau im Amt halten.

Am 20. Juli 2021, das heißt nur sieben Monate vor der „Zeitenwende“, ist auf der Web-Seite der russischen Regierung unter Putins Name ein Artikel mit dem Titel „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“ veröffentlicht worden. Darin ist von einer „einzelnen großen Nation, einer dreieinigen Nation“ die Rede. Es mache daher keinen Unterschied, „als was sich die Menschen selbst betrachten – als Russen, Ukrainer oder Weißrussen“. Sie alle seien schließlich „Nachfahren der antiken Rus“, so Putin.

Belarus ist dabei strukturell das schwächste Glied in der Kette der „Dreieinigkeit“. Es verfügte vor Kriegsbeginn mit rund zehn Millionen Einwohnern nur über etwa ein Viertel der ukrainischen Einwohnerschaft. Mit rund 200.000 Quadratkilometern macht es nur ein Drittel des ukrainischen Staatsgebietes aus. Bei den Streitkräften sah es vor dem russischen Großangriff ähnlich aus: Mit 45.350 Soldaten entsprach die weißrussische Armee weniger als einem Viertel der ukrainischen Armee mit damals 209.000 Soldaten.

Unterdessen destabilisiert Putins Russland zunehmend auch Moldawien. Seit Tagen gibt es in der Hauptstadt Chișinău teils offen pro-russische Proteste. Das östliche Staatsgebiet Transnistrien ist ohnehin seit 1992 von russischen Truppen besetzt.

Gerd Portugall