Wie verschiedene Medien berichten, soll die Ukraine allem Anschein nach erstmals die russische Grenzregion Brjansk mit US-Kurzstreckenraketen angegriffen haben. Zuvor hatte US-Präsident Biden offenbar die Reichweitenbeschränkung der Raketen vom Typ ATACMS (Army Tactical Missile System) für die ukrainischen Streitkräfte über die vom Aggressor besetzten Gebiete hinaus auf das russische Hinterland aufgehoben. Dem amerikanischen Beispiel folgten die Regierungen in Frankreich und Großbritannien bezüglich der SCALP- bzw. „Storm Shadow“-Marschflugkörper.
Joe Biden hatte offenkundig das Ergebnis der Präsidentschafts- und Kongresswahlen in seiner Heimat abgewartet, um vor dem Ende seiner Amtszeit der Ukraine militärisch noch möglichst umfassend zu helfen. Scheinbar wollte er dem isolationistischen Trump-Lager vorher keine Wahlkampf-Munition liefern. Vielleicht spielt auch das Erscheinen nordkoreanischer Soldaten auf dem europäischen Kriegsschauplatz eine Rolle bei Bidens Entscheidung.
Bei ATACMS handelt sich um eine ballistische Kurzstreckenrakete von Lockheed Martin, dem größten Rüstungskonzern der Welt. Deren erste Version, welche die Vereinigten Staaten dem überfallenen Land im vergangenen Jahr zukommen ließen, hatte eine Reichweite von 165 Kilometern. Später erhielt die Ukraine ATACMS mit einer Reichweite von bis zu 300 Kilometern, ohne diese jedoch im russischen Hinterland einsetzen zu dürfen. Das System wird von mobilen Raketenwerfern vom Typ HIMARS (High Mobility Artillery Rocket System) oder M270 MLRS (Multiple Launch Rocket System) aus abgefeuert.
Ballistische Raketen wie ATACMS sind leichter zu bekämpfen als tieffliegende, der Geländekontur folgende Marschflugkörper wie der britisch-französische „Storm Shadow“/SCALP oder der deutsche „Taurus.“ Vor dem Hintergrund des Fahrt aufnehmenden Bundestagswahlkampfes mehren sich die Stimmen in Koalition und Opposition, den zunehmend bedrängten Ukrainern nun doch „Taurus“ zu liefern.
Mit seiner Reichweitenentscheidung setzt der US-Präsident Bundeskanzler Olaf Scholz unter Druck, der immer betont hatte, dass die Freigabe deutscher Waffensysteme immer in engem Schulterschluss mit den Vereinigten Staaten erfolgen solle. Scholz hat sich am Rande des G20-Gipfels in Rio de Janeiro erneut gegen die „Taurus“-Lieferung ausgesprochen.
Dr. Gerd Portugall