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Am gestrigen Dienstag sind zwei polnische Zivilisten getötet worden, als eine offenbar verirrte Rakete einen Traktor in der Nähe des polnischen Dorfes Przewodów traf. Das Dorf liegt etwa 7,5 km von der polnisch-ukrainischen Grenze entfernt. Die Rakete kam von jenseits der Grenze. Schnell tauchten widersprüchliche Berichte über die Art und den Ursprung des Einschlags auf. ESuT bietet hier einen kurzen Überblick und eine Analyse der bisher bekannten Fakten und untersucht mögliche Erklärungen.

Am Abend des Angriffs meldeten AP und andere Nachrichtenagenturen zunächst, dass mehrere Raketen über die Grenze nach Polen geflogen seien, doch im weiteren Verlauf nannten polnische Medien, Radio ZET und CNN die Zahl von zwei Raketen, die in Polen eingeschlagen seien. Und am Mittwochmorgen begannen Reuters und die meisten Nachrichtenagenturen, sich auf einen bestätigten Raketeneinschlag zu konzentrieren, wobei Bilder von einem großen Krater und einem beschädigten Traktoranhänger auftauchten. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es noch keine endgültige Zahl für die in Polen eingeschlagenen Raketen, abgesehen von der einen Rakete, die für den Verlust von zwei Menschenleben verantwortlich ist. Es kann Tage oder sogar Wochen dauern, bis eine offizielle, endgültige Zahl feststeht, da die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind.

Was die Herkunft der Raketen betrifft, so fiel der erste Verdacht auf Russland. Russland hatte am selben Tag zahlreiche Angriffe mit Flugkörpern auf ukrainische Stromerzeugungsanlagen durchgeführt. Die Financial Times zitierte die ukrainische Luftwaffe mit der Aussage, Russland habe an diesem Tag etwa 90 Marschflugkörper abgefeuert, darunter luftgestützte Marschflugkörper des Typs Kh-101/Kh-555 und von Schiffen oder U-Booten abgefeuerte Marschflugkörper der Kalibr-Familie, von denen die ukrainische Luftwaffe nach eigenen Angaben 73 abgefangen hat. Nach dem Auftauchen von Bildern von Wrackteilen des Flugkörpers in den sozialen Medien hat der auf die Ukraine fokussierte Account „Ukraine Weapons Tracker“ von Calibre Obscura festgestellt, dass es sich bei dem Bauteil um einen Teil der Düsenbaugruppe des 48D6-Triebwerks zu handeln scheint und daher höchstwahrscheinlich von einem 5V55 stammt, der von der S-300P-Familie verwendet wird, oder möglicherweise von einem Flugkörper der Serie 48N6, der sowohl von der S-300P-Familie als auch von der S-400 verwendet wird.

Dies allein jedoch ist noch kein eindeutiger Hinweis auf die Herkunft der Rakete und Behauptungen wie die der New York Times, die Rakete sei „Russian-Made“, sind noch verfrüht. Die 5V55 wurde von der damaligen sowjetischen Firma KB Fakel in Moskau entwickelt und hauptsächlich in der PO Severniy Zavod bei St. Petersburg hergestellt. Die 5V55 wurde jedoch auch von der Zhuliany Machine-Building Plant Vizar in einem Außenbezirk von Kiew hergestellt. Darüber hinaus hat die Ukraine die industrielle Fähigkeit zur Entwicklung der von der UdSSR übernommenen Flugabwehrsysteme beibehalten, wobei das Konstruktionsbüro Pivdenne vor 2020 die Lebensdauer der 5V55-Rakete verlängert hat, was auch die Wartung der 48D6-Triebwerke der Raketen umfasste. Am 30. Juni 2020 berichtete die ukrainische Nachrichtenseite Uprom, dass die Ukraine ein Projekt zur Modernisierung ihrer Flugabwehrsysteme der Serie S-300P in Angriff genommen habe, für das das Konstruktionsbüro Pivdenne und das Chemiewerk Pavlogradskiy verantwortlich gewesen seien. Es ist unklar, wie weit das Projekt vor Ausbruch des Krieges im Februar 2022 gediehen war, aber es zeigt, dass die Ukraine über ausreichende industrielle Kapazitäten verfügt, um die Serie 5V55 zu bauen und während ihrer gesamten Lebensdauer zu warten. Daraus ergibt sich, dass die fragliche Rakete sowjetischen, postsowjetisch russischen oder postsowjetisch ukrainischen Ursprungs sein könnte.

Letztendlich ist der ursprüngliche Herstellungsort des Flugkörpers jedoch weniger wichtig als der Verantwortliche für den Start der Rakete. Sollte sich bestätigen, dass es sich tatsächlich um eine Rakete der Serie 5V55 handelte, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie von der Ukraine gestartet wurde, sehr groß. Es ist bekannt, dass Boden-Luft-Raketen (SAMs), die ihr Ziel verfehlen, manchmal über große Entfernungen weiterfliegen, bevor sie am Boden aufschlagen. Dies war am 1. Juli 2019 der Fall, als eine verirrte Rakete, bei der es sich vermutlich um eine 5V28E aus einem syrischen S-200VE (Vega-E)-System handelte, in einem Waldgebiet nördlich von Nikosia in Zypern landete, mehr als 220 km von ihrer geschätzten Abschussposition entfernt.

Die zur Einschlagstelle in Polen nächstgelegenen russischen S-300P-Formationen sind jedoch schätzungsweise mehr als 800 km entfernt stationiert, so dass es sich bei dieser Entfernung höchstwahrscheinlich nicht um eine verirrte russische Rakete handelt.

Was ist also (wahrscheinlich) passiert?

Angesichts der geografischen Lage Polens westlich der Ukraine fragen sich viele, wie eine ukrainische Rakete in Polen einschlagen konnte, wenn sie versuchte, eine ankommende russische Rakete abzuwehren, die sich vermutlich auf einem Kurs von Osten nach Westen befand. Der wahrscheinlichste Grund dafür ist, dass es sich nicht um einen Frontalangriff, sondern um einen „Crossing Target“-Einsatz handelte.

Bei diesen Einsätzen befindet sich das SAM-System nicht direkt in der An- oder Abflugschneise des Ziels, so dass das Ziel während eines großen Teils des Einsatzes tatsächlich seitlich vom Flugkörper steht. Um einen erfolgreichen Abfangvorgang zu gewährleisten, verwenden die meisten Raketen eine proportionale Navigationslogik (P-Nav), bei der die Rakete mit abnehmender Entfernung zur Bedrohung in einem konstanten Winkel zum Ziel gehalten werden muss. Anstatt direkt auf das Ziel zu zielen, wird die Abfang-Rakete auf einen errechneten Auftreffpunkt gelenkt, der sich auf der voraussichtlichen Flugbahn des Ziels befindet, wo die Abfang-Rakete nahe genug am Ziel vorbeifliegt, damit ihr Annäherungszünder den Sprengkopf auslösen kann. Dies ist eine recht effektive Methode, aber wenn das Ziel während des Einsatzes manövriert, muss die Flugbahn des Abfang-Flugkörpers entsprechend geändert werden.

Um auf das Beispiel des Einschlags in Polen zurückzukommen: Wenn eine anfliegende russische Rakete unter Beschuss genommen worden wäre, während sie in westlicher Richtung den Wirkungsradius des SAM-System durchflogen hätte, hätte die Abfangrakete einen voraussichtlichen Auftreffpunkt noch weiter westlich der eigenen Position anvisieren müssen. Dies hätte eine Ausrichtung des Abfangflugkörpers in Richtung Polen erfordert. Diese Ausrichtung der Abfang-Rakete stellt im Prinzip keine Bedrohung des polnischen Territoriums dar, außer die Rakete verfehlt ihr Ziel, was offenbar passiert ist.

Die Flugkörper der Serie 5V55 verwenden eine Unterart der Semi-Active-Radar-Homing (SARH) -Lenkung, die als Track-Via-Missile (TVM) bekannt ist. Bei diesem System wird das Ziel vom Feuerleitradar beleuchtet. Anstatt jedoch wie bei konventionellem SARH die Abweichung des Flugkörpers vom Ziel zu messen und selbständig Lenkkorrekturen vorzunehmen, werden bei TVM die Daten über eine Funkdatenverbindung an die Bodenstation übermittelt, die ihrerseits die erforderlichen Lenkkorrekturen berechnet und diese über eine Funkdatenverbindung an den Flugkörper zurückleitet. Dies bietet eine bessere Störfestigkeit, und die Bodenstation verfügt in der Regel über bessere Informationsverarbeitungsmöglichkeiten, was die Gesamtgenauigkeit verbessern kann. Neben der S-300P-Serie wurde dieses System auch von der S-300V-Serie, einigen Raketen der S-400-Familie und frühen Raketen der PATRIOT-Familie verwendet. Was die mögliche Ursache des Zwischenfalls in Przewodów betrifft, so dürften SARH- und TVM-Lenkung wahrscheinlich ziemlich ähnlich funktioniert haben.

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Diagramm einer „Crossing Target“ Version, Grafik: Mark Cazalet

Bei der Verwendung von SARH- oder TVM-Lenkung, wie bei der 5V55-Serie, können verschiedene Probleme bei der Bekämpfung von kreuzenden Zielen auftreten. Ein besonderes Problem besteht darin, dass das beleuchtende Feuerleitradar bei der Verfolgung eines kreuzenden Ziels mit größerer Wahrscheinlichkeit auf ein Hindernis im Gelände stößt als bei einer Bekämpfung von vorne oder von hinten, bei einem Ziel, das direkt auf in Richtung der SAM-Rakete fliegt. Das bedeutet, dass es mehrere Möglichkeiten gibt, dass das Gelände oder Hindernisse die Zielerfassung unterbrechen oder dass sich ein Flugkörper aus dem Sichtfeld des Feuerleitradars herausbewegt, wenn das Radar im Staring-Modus arbeitet, bei dem die Antenne in einer festen Position bleibt und sich nicht dreht. Während das Gelände in der Ostukraine relativ flach ist, ist die Gegend um Lemberg, von wo aus der Start der Abfang-Rakete wahrscheinlich erfolgte, hügeliger, mit Erhebungen, die höher sind als 400 m. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass das Zielortungsradar das Ziel während des Einsatzes verliert. Wenn der Track zum Ziel verloren geht, setzt der Abfang-Flugkörper wahrscheinlich seinen Flug weiter fort, bis er keinen Schwung mehr hat und abstürzt. Nach Einschätzung von ESuT wäre dies eine wahrscheinliche Erklärung für die Ursache des Vorfalls.

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Ein ukrainisches S-300PS-System führt einen Abschuss während der Luftverteidigungsübung „United Efforts 2021“ durch, die in der Jahorlyk-Bucht im ukrainischen Bezirk Cherson stattfand. Sowohl Russland als auch die Ukraine sind Nutzer der S-300P-Serie. Foto: Ukrainisches Verteidigungsministerium

Um zu verhindern, dass verirrte Abfang-Raketen Schaden anrichten, sind viele moderne SAMs mit einem zeitbasierten Selbstzerstörungszünder ausgestattet. Dieser wird in der Regel beim Start aktiviert und setzt einen Countdown-Timer in Gang, der den Gefechtskopf zu einem Zeitpunkt aktivieren soll, an dem die Rakete den größten Teil ihrer Nutzenergie verbraucht hat und wahrscheinlich nicht mehr in der Lage ist, ein Luftziel zu treffen, aber immer noch eine Bedrohung für Menschen am Boden darstellt. Die sowjetische und die russische Konstruktionsschule sahen jedoch vor, dass ihre SAMs, einschließlich der Serie 5V55, bei Bedarf auch Bodenziele bekämpfen können. Und in der Tat hat Russland seine SAMs während des Krieges in der Ukraine mehrfach als Ersatz für Raketenartilleriesysteme eingesetzt. Der Einsatz von SAMs auf diese Weise bedeutet, dass der Flugkörper eine ungewöhnlich lange Flugzeit haben kann, so dass Selbstzerstörungszünder in solchen taktischen Szenarien unpraktisch sind. Aus diesem Grund stellen derartige SAMs weiterhin eine tödliche Bedrohung dar, selbst wenn sie nicht mehr ausreichend Energie zur Bekämpfung von Luftzeilen haben.

Wie geht es jetzt weiter?

Der Przewodów-Zwischenfall war der erste des Krieges in der Ukraine, der zu zivilen Todesopfern in einem NATO-Mitgliedstaates führte. Der Tod polnischer Staatsbürger, der durch ausländisches Handeln auf polnischem Hoheitsgebiet verursacht wurde, wäre auf dem Papier ein ausreichender Grund für Polen, sich auf Artikel 5 der NATO zu berufen, wenn es sich dazu entschlossen hätte. In der realen Welt ist das Vorgehen jedoch komplexer.

Bevor Polen sich auf Artikel 5 berufen könnte, müsste es sich sehr sicher sein, wer es angegriffen hat, was in der Praxis bedeuten würde, eine Untersuchung des Vorfalls durchzuführen, bevor es diese Option wählt. Zweitens sind sich die meisten Regierungen darüber im Klaren, dass es im Krieg zu Unfällen kommt, und so tragisch diese auch sind, würde die Berufung auf die kollektive Verteidigung nach einem isolierten Unfall dem Geist des Abkommens zuwiderlaufen, was für die Staats- und Regierungschefs des Bündnisses von politischer Bedeutung wäre. Schließlich erfordert die Inkraftsetzung von Artikel 5 nicht per se eine militärische Mobilisierung des gesamten Bündnisses, wie auf der NATO-Website erläutert wird:

„Mit der Inkraftsetzung von Artikel 5 können die Bündnispartner jede Form der Unterstützung leisten, die sie als notwendig erachten, um auf eine Situation zu reagieren. Dies ist eine individuelle Verpflichtung jedes Bündnispartners, und jeder Bündnispartner ist dafür verantwortlich, zu entscheiden, was er unter den jeweiligen Umständen für erforderlich hält.“

Diese Hilfe wird in Absprache mit anderen Verbündeten geleistet. Sie ist nicht notwendigerweise militärischer Art und hängt von den materiellen Ressourcen der einzelnen Länder ab. Es liegt daher im Ermessen jedes einzelnen Mitgliedstaates zu entscheiden, wie er seinen Beitrag leistet.

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NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg spricht zur Öffentlichkeit anlässlich des Raketen-Zwischenfalls in Polen, Foto: NATO

Bisher haben die NATO-Verbündeten angedeutet, dass sie Russland nicht für den Urheber des Zwischenfalles halten. So erklärte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in einem Briefing am 16. November 2022:

„Unsere vorläufige Analyse deutet darauf hin, dass der Vorfall wahrscheinlich durch eine ukrainische Luftverteidigungsrakete verursacht wurde, die zur Verteidigung des ukrainischen Territoriums gegen russische Marschflugkörperangriffe abgefeuert wurde. Aber lassen Sie mich klarstellen: Die Ukraine ist nicht schuld. Russland trägt letztendlich die Verantwortung, da es seinen illegalen Krieg gegen die Ukraine fortsetzt.“

In Anbetracht dieser Position ist es unwahrscheinlich, dass der Vorfall zu einer weiteren Eskalation zwischen der NATO und Russland führen wird. Dennoch ist er eine wichtige Lehre, dass tödliche Unfälle im Krieg passieren und sich nicht an Grenzen zu halten.

Mark Cazalet