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Russlands Machthaber Wladimir Putin hat die Ukraine und die NATO in seiner am 21. September ausgestrahlten Videobotschaft vor dem Hintergrund militärischer Rückschläge unmissverständlich und zum wiederholten Mal gewarnt: „Für den Fall einer Bedrohung der territorialen Integrität unseres Landes und um Russland und unser Volk zu verteidigen, werden wir sicherlich alle Arten von Waffensystemen einsetzen, die uns zur Verfügung stehen. Dies ist kein Bluff.“

Gemeint sind damit sicherlich auch und gerade Atomwaffen. Doch welche Art von Atomwaffen? Taktische Atomwaffen auf dem Gefechtsfeld? Vermutlich. Strategische Interkontinentalraketen? Vermutlich nicht, obwohl Putins Wortwahl strenggenommen auch diese „Weltuntergangswaffen“ impliziert. Während die westliche Welt aufgeschreckt reagierte, fragen sich Experten, wie Russlands wichtigster Verbündeter – die Volksrepublik China – diese verbale Eskalation einschätzt.

Noch am selben Tag bei einer Pressekonferenz im chinesischen Außenministerium auf Putins Nuklearwaffendrohung angesprochen, erklärte dessen Sprecher Wang Wenbin laut CNN ausweichend: „Chinas Haltung zur Ukraine-Krise ist die ganze Zeit über konsequent und klar gewesen: Wir appellieren an alle relevanten Konfliktparteien, durch Dialog und Verhandlung einen Waffenstillstand zu erreichen und eine Lösung zu finden, welche die legitimen Sicherheitsbedenken aller Beteiligten so schnell wie möglich berücksichtigt.“

Immer noch am selben Tag – aufgrund der Zeitverschiebung – traf sich in New York am Rande der UN-Vollversammlung der russische Außenminister Sergei Lawrow mit seinem chinesischen Amtskollegen Wang Yi. Dieser sagte, China würde beim Thema Ukraine weiterhin „sein Ziel, auf Friedensverhandlungen zu drängen und seine unparteiische Position beibehalten“. Konsequenterweise traf sich Wang am East River auch mit seinem ukrainischen Amtskollegen Dmytro Kuleba.

Fünf Tage vor Putins Nuklearwaffendrohung hatte sich dieser mit Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping am Rande eines Gipfeltreffens der Shanghaier Staatengruppe (SOZ) im usbekischen Samarkand getroffen. Anschließend erklärte der russische Präsident laut Wirtschaftsmagazin Forbes, dass Xi bezüglich der Lage in der Ukraine „Fragen und Sorgen“ geäußert habe.

Hu Xijin, einflussreicher chinesischer Kommentator und ehemaliger kommunistischer Parteisekretär, sagte gegenüber der in Hongkong erscheinenden Asia Times: „Wenn Putin glaubt, dass Russland ohne den Einsatz von taktischen Atomwaffen den Krieg in der Ukraine verlieren wird, wird seine Regierung fallen und Russland droht dann ein Auseinanderbrechen. Dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er den Einsatz von Nuklearwaffen befehlen wird, dramatisch an.”

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Was würde das für die Volksrepublik bedeuten? „China hat keine nukleare Erstschlagdoktrin“, erklärte dazu Heather Williams, Atomwaffenexpertin am King‘s College in London, gegenüber der BBC. Falls Putin tatsächlich einen nuklearen Erstschlag in der Ukraine ausführen sollte, “würde er wahrscheinlich China verlieren“, so die Forscherin.

Ein anderer Experte, Brian Hart, der am “China Power Project” des Washingtoner Center for Strategic and International Studies (CSIS) forscht, sagte laut CNN über Putins Nukleardrohung: „Ich denke nicht, dass wir ein sich auftuendes Schisma zwischen Russland und China sehen.“ Zu sehr vereine die gemeinsame Bedrohungswahrnehmung – nämlich die Vereinigten Staaten – die strategische Ausrichtung Russlands und Chinas, so der CSIS-Wissenschaftler.

Der republikanische US-Senator und ehemalige Präsidentschaftskandidat Mitt Romney forderte noch am Tag von Putins jüngster Nukleardrohung auf seiner Homepage, dass die Biden-Administration und die US-Verbündeten der Volksrepublik deutlich machen müssten, dass China im Falle eines atomaren Angriffs durch Russland „mit einem globalen Paria-Staat verbunden wäre, was zu schwerwiegenden wirtschaftlichen Konsequenzen führen würde“.

Der ehemalige NATO-Oberbefehlshaber und US-Admiral a.D. James Stavridis sagte in einem Interview mit dem New Yorker Radiosender 77 WABC, Russland würde im Falle eines Atomschlags gegen die Ukraine sogar „von seinen Verbündeten – einschließlich Iran und China – im Stich gelassen werden“. Aber, so Stavridis apodiktisch: „Putin denkt nicht ernsthaft über den Einsatz von Nuklearwaffen nach“ – quod esset demonstrandum!

Gerd Portugall