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Die Annexion der Westbank durch Israel ist voller multidimensionaler, rechtlicher, internationaler, wirtschaftlicher und politischer Aspekte und Implikationen. Die öffentliche Debatte in Israel über die Zukunft der Territorien im Westjordanland orientiert sich an den Interessen von sektoralen Gruppen und nicht an einer rationalen und ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Thema.

Aktuell konkurriert das Thema beim Kampf um die öffentliche Aufmerksamkeit mit Mega-Ereignissen wie der globalen COVID-19-Pandemie und den US-Präsidentschaftswahlen. Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu hatte immer wieder öffentlich wiederholt, das Datum für die Annexion sei der 1.Juli 2020. Aber noch immer sind viele Fragen bei der eventuellen Annexion offen. Was genau soll annektiert werden? Welche rechtlichen, wirtschaftlichen und internationalen Auswirkungen hat welcher Plan? Jede Art der Annexion wird die Situation in der israelisch-palästinensischen Arena verändern. Sie kann zu Kettenreaktionen führen, deren Bedeutung und Intensität schwer vorherzusagen sind.

Eines der riskantesten Szenarien könnte sein, dass die Annexion zum Zusammenbruch der Palästinensischen Autonomiebehörde führen könnte. Dann müsste Israel für etwa 2,7 Millionen Palästinenser im Westjordanland Verantwortung übernehmen. Man braucht wenig Phantasie, um die Auswirkungen dieses Szenarios auf die demografische, wirtschaftliche und demokratische Zukunft Israels zu erahnen.

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Israelische Siedlungen in Westjordanland Ende 2019 (Grafik: B‘Tselem)

Es gibt mehrere Entwürfe der Annexion. Die Szenarien reichen von der vollen Annexion bis zu einer minimalen, die nur wenige Prozente des Westjordanlandes umfasst. Die israelische Regierung hat der Öffentlichkeit bisher keinen klaren Entwurf vorgelegt.

In der Abbildung sind in der grauen Farbe die C-Gebiete eingezeichnet. Der weitestgehende Plan geht davon aus, dass das Jordantal und Teile des Gebiets nördlich des Toten Meers annektiert werden. Dort leben ca. drei Prozent der jüdischen Siedler. Dazu gehört ein Streifen entlang der früheren „grünen Linie“, in dem 80 Prozent der jüdischen Siedler leben und die große Mehrheit der jüdischen Siedlungen liegen. In diesen Grenzen würde die große Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung und 70 Prozent des Territoriums nicht annektiert.

Dieses Konzept enthält einige wichtige Bestandteile:

a) Der Jordan wird als Sicherheitsgrenze etabliert – die frühere „grüne Linie“ im Zentrum des Landes ist nur etwa 10 km vom Mittelmeer entfernt.
b) Fast alle der 400.000 Siedler kommen unter Israels Souveränität.
c) Ein lebensfähiger palästinensischer Staat ist so gut wie unmöglich.

Die Gegner dieses Konzepts führen an:

a) Da in Jordanien die Mehrheit der Bevölkerung palästinensisch ist, könnte die Annexion zu Unruhen in Jordanien führen – bis hin zum Sturz der Monarchie, die seit Jahrzehnten Garant des Friedens und der Stabilität im Nahen Osten ist. Mit anderen Worten: Eine Annexion des Jordantals könnte zum Zusammenbruch des Friedensabkommens mit Jordanien führen. Damit würde Israel „strategische Tiefe“ verlieren, denn heute ist Jordanien – mit dem Israel auch eine enge Militärkooperation hat –Pufferstaat zwischen Israel und einer feindlich gesinnten arabischen und islamischen Welt, vor allem zum Irak und Iran.

In einem weiteren möglichen Szenario könnten die Unruhen im Westjordanland auf den ebenfalls palästinensischen Gaza- Streifen überschwappen. Das könnte die islamische Bedrohung für die von Ägypten beherrschte Sinai-Halbinsel erhöhen. Die Schwächung gemäßigter Staaten wie Ägypten und Jordanien könnte den Iran, die Türkei und die islamischen Bewegungen stärken.

Die einzige Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts – zwei Staaten für zwei Völker – würde damit zunichte gemacht. Vielleicht ist dies genau das Ziel der Regierung Netanjahu. Die annektierten Gebiete erhalten Land, Infrastruktur und anderes Eigentum von Palästinensern aus den nicht-annektierten Gebieten A und B (siehe Karte). Die Annexion in all ihren Formen wird das Gefühl von Frustration, Wut und Hass und dann auch gewalttätige Konflikte zwischen beiden Seiten verstärken. Die Umsetzung der Annexion in den verschiedenen Entwürfen hat also Auswirkungen auf viele Bereiche:

Lokal und international rechtliche Aspekte

Laut Reserveoberst Pnina Sharvit-Baruch, die in der Abteilung für Völkerrecht im Büro des Militärstaatsanwalts diente, ändert sich der persönliche Rechtsstatus der Siedler nicht. Die israelische Gesetzgebung gilt heute schon für sie, obwohl sie auf der gegenüberliegenden Seite der Grünen Grenze wohnen. Die Palästinenser, die in den annektierten Gebieten leben, erhalten einen Aufenthaltsstatus, ähnlich wie die Einwohner Ostjerusalems, der ihnen Bewegungsfreiheit in Israel, das Recht auf soziale Sicherheit und das Recht, die Staatsbürgerschaft zu beantragen, gewährt. Für Palästinenser außerhalb des annektierten Gebietes muss Israel ihr Recht respektieren. Das heißt: Israel muss vor allem den Zugang zum Eigentum der Palästinenser im annektierten Gebiet gewähren. Der Durchgang durch die annektierten Gebiete muss geändert werden.

Seit der Verlagerung der US-Botschaft nach Jerusalem lehnt Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas – hier mit dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier – jeden Kontakt mit dem US-Präsidenten und auch dessen sogenannten Friedensplan ab (Foto: Website Abbas)

Völkerrechtlich ändert die Annexion den Status des Gebiets als besetztes Gebiet nicht. Mit anderen Worten: Die internationale Gemeinschaft wird das annektierte Gebiet nicht als Teil des Staates Israel anerkennen, ähnlich wie Ost-Jerusalem. Das heißt: Die Annexion wird als ein illegaler, gewaltsamer Schritt angesehen, der das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser verletzt. Es wird erwartet, dass die Annexion Israel bei erwarteten Untersuchungen des Internationalen Strafgerichtshofs Schwierigkeiten bereiten wird, insbesondere, was die Verletzung der Rechte der Palästinenser betrifft. Israel riskiert auch Maßnahmen wie die Verweigerung von Leistungen und die Verhängung von Sanktionen durch die internationale Gemeinschaft, so wie es Russland nach der Annexion der Krim erging.

Die israelische Annexion von palästinensischen Gebieten wird zu einer Konfrontation mit dem Internationalen Strafgerichtshof führen, der Untersuchungen, Ermittlungen und Anklageerhebungen von Kriegsverbrechen durchführt. Vermutlich wird das Gericht aufgrund einer Klage von Fatou Bensouda eine Untersuchung gegen Israel wegen „Kriegsverbrechen“ einleiten. Die israelischen Aktivitäten in den palästinensischen Gebieten kommen dabei auf den Prüfstand. Die Annexion wird Israels Beziehung mit dem internationalen Gericht nur noch komplizierter machen. Es ist fraglich, ob der Gewinn aus der Annexion es wert ist, diesen internationalen Preis zu zahlen.

Der palästinensische Blickwinkel

Die Fatah im Westjordanland und die Hamas im Gazastreifen sind natürlich heftige Gegner der Annexion, aber die Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen, um die Annexion zu vermeiden, sind begrenzt. Seit der Verlagerung der US-Botschaft nach Jerusalem lehnt Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas jeden Kontakt mit US-Präsident Donald Trump ab. Er lehnt auch den „Friedensplan“ von Präsident Trump ab.

Die Gefahr des Zusammenbruchs der palästinensischen Regierungsstellen stellt auch eine erhebliche wirtschaftliche Bedrohung dar, da mehr als 170.000 Palästinenser im öffentlichen Sektor beschäftigt sind. Die Annexion ist also nicht nur politisch für die nationalen Bestrebungen bedrohlich, sondern auch

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