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Schon die Tatsache, dass der Pressesaal des Europäischen Ratsgebäudes beim off-the-record Briefing vor dem EU Gipfel 20. – 21. Juni mehr als randgefüllt war, deutet die Besonderheit der Situation an. Gilt es doch bis zum 2. Juli, dem Tag, an dem sich das aus den letzten Wahlen hervorgegangene Europäische Parlament konstituiert, eine Entscheidung zu den vier zu bestehenden Spitzendienstposten Kommissionspräsident (Nachfolge Jean-Claude Juncker), Parlamentspräsident (Nachfolger Antonio Tajani)(wobei hier die Besonderheit zu berücksichtigen ist, dass die Legislatur des Parlaments auf zwei Präsidenten aufgeteilt wird), Chef der Europäischen Zentralbank (Nachfolge Mario Draghi), Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik (Nachfolge Federica Mogherini) zu schmieden. Verfassungsgemäß besteht für den Rat für drei von den vieren eine direkte Nominierungsoption.

  • Der Kommissionspräsident wird vom Europäischen Rat nominiert und durch das Europäische Parlament für fünf Jahre gewählt.
  • Der Chef der Europäischen Zentralbank wird vom Europäischen Rat für eine Amtszeit von acht Jahren ohne Wiederwahlmöglichkeit gewählt.
  • Der Hohe Vertreter wird mit qualifizierter Mehrheit für die Funktionsperiode der Europäischen Kommission nach Zustimmung des Kommissionspräsidenten vom Europäischen Rat ernannt.
  • Der Parlamentspräsident wird nach EU-Vertrag (Art. 14) vom Parlament aus seiner Mitte gewählt, wozu er die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen benötigt.

Die Gemengelage wurde nochmals deutlich: EU-Ratspräsident Donald Tusk, der seit dem Wahlabend rastlos konsultiere, verfolge drei Kriterien, nämlich Ausgewogenheit zwischen den politischen Parteien, bei Gender und bei der geographischen Zugehörigkeit. 

Beim Austarieren spielt, wenn auch nur nachrangig, eine Rolle, dass die Besetzung der Generaldirektoren gerne im Kalkül berücksichtigt werden. Denn unter Umständen verbieten sich bestimmte Konstellationen, was wiederum Einfluss auf das Spitzenquartett nehmen kann. Nun sind vereinzelt Entscheidungen zu Nachbesetzung bereits gefallen. Zum Beispiel beim Stabschef des EU-Militärstabs. Dem finnischen General Esa Pulkkinen wird im Mai 2020 der französische Vizeadmiral (vier Sterne) Hervé Bléjean folgen (mehr dazu in Kürze in Europäische Sicherheit und Technik, Heft 7/2019).

Wurde die Beschickung der vier Spitzenämter der EU bereits in der Vergangenheit zu einer Herausforderung, so hat sich der Schwierigkeitsgrad spätestens durch den Ausgang der Wahlen zum Europäischen Parlament weiter erhöht: das Gewicht der Parteien wiegt schwerer. Das Selbstverständnis des Parlaments hat sich weiter entwickelt, auch das Verständnis der Bürger über die demokratischen Verhältnisse. So wird aus der geübten Machtarithmetik nun Mengenlehre, vielleicht sogar Physik.

Aktuell gibt es keine Mehrheit für niemanden. Der Europäische Rat, also die Versammlung der Staats- und Regierungschefs will sich bis spätestens Freitag den 21. Juni auf den bzw. die  Kandidaten einigen. Im Europäischen Parlament, das den Präsidenten der Kommission zu wählen hat, ist man sich ohnehin noch uneins.

Dabei steigt der Entscheidungsdruck, denn vor dem 2. Juli (s.o.) liegt ein G-20-Gipfel in Osaka, Japan (28./29. Juni). Also, unter Berücksichtigung von Raum-Zeitfaktoren wenig Zeit, um den vom Ratspräsidenten Donald Tusk in seinem Einladungsschreiben beschworenen gemeinsamen Willen zu einem Abschluss herzustellen.

Zu den weiteren Themen des Gipfels gehören die Verabschiedung einer «Strategischen Agenda» für die EU-Arbeit in den kommenden fünf Jahren sowie der Abschluss der bisher inkonklusiv verlaufenden Beratungen eines stärkeren Vorgehens innerhalb der EU gegen den Klimawandel. Daneben werden der mittelfristige Finanzplan, Desinformation sowie die Außenbeziehungen behandelt. Dabei geht es maßgeblich um das Verhältnis zu Russland und die Verlängerung der Sanktionen. Kanzlerin Angela Merkel und Staatspräsident Emmanuel Macron werden ihren Amtskollegen einen Zustandsbericht über die Implementierung des Minsker Abkommens geben sowie über die Verhandlungen im Normandie-Format berichten. Unter diesem Tagesordnungspunkt werden auch die jüngsten Bohraktivitäten der Türkei in der zypriotischen Ausschließlichen Wirtschaftszone (EEZ –Exclusive Economic Zone) diskutiert. Ebenso wird der Erweiterungsprozeß, insbesondere Nord-Mazedonien und Albanien Gegenstand der Beratungen. Heute unerwähnt, doch sicherlich zu erwarten: eine Berichterstattung der Hohen Vertreterin Frederica Mogherini zu ihren Gesprächen mit US Außenminister Mike Pompeo am 18. Juni.

Der Gipfel wird am Freitag als Euro-Gipfel fortgesetzt, wobei dann die Reform der Wirtschafts- und Währungsunion Thema sein wird. Zum Abschluss des Gipfeltreffens eine  Lagefortschreibung zum Brexit durch Ratspräsident Donald Tusk und Kommissionschef Jean-Claude Juncker.

Die Diskussion der alle anderen Themen überstrahlenden Nominierungsfrage ist während des Arbeits-Abendessens am heutigen Donnerstag ab 19.15 Uhr vorgesehen. Falls sich Ergebnisse zeitigen, dürften sie außerhalb der Sendezeiten der klassischen Nachtichtensendungen liegen. Uns steht nicht nur eine lange Nacht bevor, denn das Risiko, dass keine Entscheidung getroffen werden kann, ist durchaus gegeben. Am Ende wird sich spätestens zum 2. Juli zeigen müssen, welches Prinzip aus Arithmetik, Mengenleere oder Physik obsiegt.

Hans Uwe Mergener