Am 9. November hat Staatspräsident Emmanuel Macron in Toulon an der Côte d’Azur im größten Marinestützpunkt Frankreichs an Bord des Hubschrauberträgers „Dixmude“ die neue „Revue Nationale Stratégique“ (RNS) vorgestellt. Der französische Präsident ordnet in seinem Vorwort zur RNS 2022 ein: „Diese letzten Jahre haben Tragik in unsere Leben zurückgebracht und das Schicksal unserer Nation in Frage gestellt. Die überzogenen revisionistischen Ambitionen, der enthemmte Opportunismus, die Gesundheits- und Klimakrisen sowie die Rückkehr des hochintensiven Krieges nach Europa erinnern uns an die tiefgehende Interdependenz bei den Themen Ernährung, Wirtschaft und Energie auf der nationalen wie der internationalen Bühne.“
„Ich möchte“, so Macron weiter, „dass Frankreich im Jahr 2030 seine Rolle wahrnimmt als ausgleichende Macht, geeint, freudestrahlend, einflussreich, als Motor der europäischen Autonomie, und dass Frankreich seine Verantwortung übernimmt, indem es als zuverlässiger und solidarischer Partner dazu beiträgt, die multilateralen Mechanismen zu erhalten, die auf dem Völkerrecht beruhen.“
„Die Invasion der Ukraine“, so das „Secrétariat Général de la Défense et de la Sécurité Nationale“ (SGDSN), auf dessen Homepage die RNS vorgestellt wird, „die Zuspitzung des strategischen Wettbewerbs, die ausdrückliche Rückkehr der nuklearen Dimension im strategischen Wettbewerb und ein zunehmender Rückgriff auf nicht-militärische Handlungsweisen ergeben zahlreiche Fakten, welche die Notwendigkeit aufzeigen, die Entwicklung unserer Verteidigungsfähigkeiten zu reflektieren, die sich im Rahmen der europäischen strategischen Autonomie sowie in unseren erneuerten Bündnissen und Partnerschaften befinden. Die Berücksichtigung der Gefahr von Konflikten hoher Intensität und des Einsatzes von hybriden Strategien muss ganz besonders unsere Reflexionen anleiten, um unsere Widerstandsfähigkeit zu steigern.“
Nukleare Abschreckung im Mittelpunkt
Die RNS 2022 definiert zehn strategische Ziele Frankreichs. Bezeichnenderweise wird als Ziel Nummer eins die „robuste und glaubwürdige nukleare Abschreckung“ genannt: „Die Abschreckungspolitik Frankreichs muss die globalen Tendenzen berücksichtigen, die sich ebenso auf dem Feld der Technologie wie durch hybride Konfliktformen ausbreiten.“ Mit Sorge werden die technischen Fähigkeitsentwicklungen der Konkurrenten betrachtet, nämlich unter anderem „Flug- und Raketenabwehr, Weltraum, Überschallwaffen, U-Boot-Überwachung.“ Gerade der letztgenannte Punkt ist für Frankreich von zentraler Bedeutung, da dessen nukleare Zweitschlagfähigkeit auf seinen Atom-U-Booten beruht.
„Der Konflikt in der Ukraine“, führt die RNS weiter aus, „ist aufschlussreich für die wichtige Rolle, die unsere Nuklearwaffen für die Sicherheit im euro-atlantischen Raum spielen.“ Es gehe darum, „einen großen Krieg zu verhindern, die Handlungsfreiheit Frankreichs zu gewährleisten und seine vitalen Interessen zu schützen, die eine europäische Dimension haben“. Eine Europäisierung der „Force de Frappe“, wie sie vor allem in Deutschland immer wieder mal thematisiert wird, ist daraus nicht ableitbar. Das Strategiedokument ist da ganz eindeutig: Es gehe immer nur „um den Erhalt der Handlungsfreiheit des Präsidenten der Republik“ und um die „Verstetigung der Unabhängigkeit der französischen Abschreckung“.
Zwar ist in der RNS von Frankreich als „einem Motor der strategischen Autonomie Europas“ die Rede, doch bezieht sich das nur darauf, „ein souveränes Europa zum Vorschein zu bringen, ausgestattet mit einer gemeinsamen strategischen Kultur, einer Fähigkeit zur Bewertung der Lage und zum eigenständigen Handeln im Dienst der gemeinsamen europäischen Interessen“. Eine „Schlüsselrolle“ leitet dabei die neue Strategie für Frankreich aus dessen Zugehörigkeit zur EU, zur NATO und zum UN-Sicherheitsrat als Ständiges Mitglied ab. Da die Fünfte Republik das einzige Land in Europa ist, das alle drei Voraussetzungen erfüllt, dürfte die „Kleiderordnung“ im „europäischen Konzert der Mächte“ klar sein: ganz oben und allein thront Frankreich, und das – wenn man sich die anderen europäischen Partner anschaut – durchaus zurecht.
Besonders erwähnenswert bei der Reihenfolge der strategischen Ziele der RNS 2022 sind die Plätze drei (Kriegswirtschaft), vier (Cyber-Sicherheit) und fünf (NATO und EU). Seine erste Nationale Sicherheitsstrategie hatte Macron im Oktober 2017 vorgestellt, d.h. fünf Monate nach seinem Wahlsieg gegen François Hollande. Letzterer hatte als Strategiedokument im April 2013 das „Weißbuch zur Verteidigung und Nationalen Sicherheit“ veröffentlicht, also rund ein Jahr nach dessen Wahlsieg. Nun war eine neue RNS fällig geworden: zum einen wegen des Beginns von Macrons zweiter Amtszeit und zum anderen – was schwerer wiegt – wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine.
Gerd Portugall