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Der von Putin angezettelte Krieg in der Ukraine führt nicht nur in Berlin zu einem Paradigmenwechsel. In Brüssel erleben Beobachter eine bisher selten dagewesene Mobilisierung und Reaktionsfähigkeit. Etwa am vergangenen Freitag, den 4. März. Vormittags trafen sich die NATO-Außenminister mit ihren finnischen, schwedischen und EU-Kollegen. Nachmittags berieten die EU-Außenminister mit ihren britischen, US-amerikanischen und kanadischen Pendants sowie dem NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg die Lage.

Im Fall der Ukraine nutzt die EU ihre traditionellen Instrumente wie humanitäre Hilfe (500 Millionen Euro) und finanzielle Unterstützung. Letztere in Form eines Darlehens in Höhe von 1,2 Milliarden Euro. Dazu kommen individuelle und sektorale Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Bemerkenswert sind dabei die Sanktionen gegen den Kreml, die Oligarchen und die russische Zentralbank. Mit einer Anfang März bereitgestellten Online-Plattform wird überdies die Verfolgung von Sanktionsverstößen möglich. Das von der EU-Kommission entwickelte Instrument zielt auf die mehr als vierzig aktiven Sanktionsregime ab, nicht nur auf Sanktionen in Verbindung mit Russland.

Einen Wendepunkt in der Politik markiert die Entscheidung des Europäischen Rates, die  Europäische Friedensfazilität (EFF) zu nutzen, um die Ukraine mit 500 Millionen Euro für militärische Hilfe zu unterstützen. 450 Millionen Euro davon sind für tödliche Waffen vorgesehen, 50 Millionen Euro für andere militärische Unterstützung. Auf diese Weise können sich auch EU-Länder wie Irland, Malta oder Österreich einbringen, die nicht zu letalen Mitteln beitragen möchten.

Sollten sich diese Mittel als nicht ausreichend erweisen, wurde die Tür für die weitere Unterstützung aus dem EU-Haushalt geöffnet. In seiner Entschließung vom 1. März formulierte das Europäische Parlament seine Erwartung, dass die EU und die EU-Mitgliedstaaten „alle verfügbaren EU-Haushaltsinstrumente aktivieren“. Technisches Detail: Die Kiew zugesagten 500 Millionen Euro werden über die Jahre bis 2027 verteilt, sind also nicht Bestandteil des Haushalts 2022 allein.

Der Geist der europäischen Verteidigung

Während sich in der EU mit der Bereitschaft zur Finanzierung und Überlassung von Waffen, wie auch mit der zu beobachtenden Geschlossenheit ein politischer Wandel manifestiert, scheint sie mit ihrer Haltung gleichzeitig eine Vorreiterrolle einzunehmen.

Dagegen herrscht Zurückhaltung bei der NATO-Allianz, was sich auch in der Anzahl der Sitzungen widerspiegelt. Während für die NATO ein Ministertreffen und ein Gipfeltreffen zu verzeichnen ist (ein Verteidigungsministertreffen ist für den 16. März angesetzt), kommt die Europäische Union auf zwei Gipfel, vier Treffen der Außenminister sowie ein Treffen der Verteidigungsminister. Die EU, bis vor kurzem noch bar jeder militärischen Entschlossenheit, will offenbar ihren Verteidigungswillen unter Beweis stellen und mobilisiert die ihr zur Verfügung stehenden Instrumente im Krisenmanagement.

Es scheint, als laufe der Schuman-Platz mit den EU-Institutionen dem NATO-Hauptquartier in Sicherheitsfragen den Rang ab. Auch wenn weder die EU noch das Atlantische Bündnis direkte militärische Mittel einsetzen. Der so oft beschworene Geist europäischer Verteidigung wird unter dem Druck der Krise greifbar.

So hat auch die britische Außenministerin Liz Truss am Sondertreffen der EU-Außenminister am 4. März teilgenommen. Denn das Vereinigte Königreich engagiert sich nun in der ersten Verteidigungs- und Sicherheitskooperation mit der EU seit dem Brexit. Auch anderen Drittstaaten wird Möglichkeit die Möglichkeit eingeräumt, die Europäische Friedensfazilität zu nutzen. Darunter befinden sich die USA, Kanada, Australien, Neuseeland, demnächst vielleicht Norwegen und Südkorea.

Das bleibt nicht ohne Wirkung. Nicht nur, dass sich die EU-Botschafter am 7. März mit den formellen Beitrittsanträgen der drei östlichen Partnerländer Georgien, Moldawien und Ukraine befasst und eine Prüfung zugesagt haben. Angesichts der Entwicklungen will Dänemark sein Opt-out zur gemeinsamen Verteidigung innerhalb der EU in einem Referendum am 1. Juni zur Disposition stellen. Durch seinen Vorbehalt am Maastrichter Vertrag steht das skandinavische Land außerhalb der Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO), der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA) und anderer verteidigungspolitischer Initiativen der EU.

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NATO

Auch in der NATO sind interessante Entwicklungen zu beobachten. Gemessen an den gemeinsamen Auftritten mit der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen könnte man meinen, der NATO-Generalsekretär gehöre zum Krisenstab der EU. Dabei treibt Jens Stoltenberg die Sorge um, dass das Bündnis Teil des Konflikts werden könnte. Gegenüber den Medien erklärte er am Ende des Sondertreffens der NATO-Außenminister: „Wir haben die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass sie [Anmerkung: die Krise] sich nicht intensiviert und über die Ukraine hinaus ausdehnt. Dies wäre noch verheerender und gefährlicher.“ So blieb es bei politischer Unterstützung und Waffenlieferungen durch die Mitgliedsstaaten der Allianz und beim Nein zu der von Kiew geforderten Flugverbotszone.

Flexibilität und Krisenreaktionsfähigkeit untermauert die NATO mit der Assoziierung von Finnland, Schweden und der Ukraine. Sowohl Helsinki als auch Stockholm erhalten Zugang zum Informationsaustausch des Bündnisses. Neben Informationen erhält Kiew nun auch Zugang zum Hackerclub der NATO. Das NATO Cooperative Cyber Defense Centre of Excellence (CCDCOE) gab am 4. März bekannt, dass die 27 Trägerstaaten einstimmig beschlossen haben, dem Antrag der Ukraine auf Aufnahme als beitragsleistender Teilnehmer stattzugeben. Das Land habe jedoch keinen Anspruch auf eine vertiefte Koordinierung, da es kein Mitglied der NATO sei.

Andererseits gilt es für die Allianz den Schlag gegen das mit der Ukraine betriebene Lufttransportprogramm Salis zu verdauen. Die Zerstörung des größten Transportflugzeuges der Welt, der Antonow An-225 Mryia, wird nicht ohne Konsequenzen für die strategischen Transportmöglichkeiten der Salis-Mitgliedsstaaten bleiben.

Strategischer Kompass

In der EU scheint dem Strategischen Kompass aufgrund der jüngsten Entwicklungen Ungemach zu drohen. Der russische Einmarsch in die Ukraine soll zu einer deutlichen Revision des Dokumentes geführt haben.

Der ursprüngliche Entwurf stieß auf Kritik, weil Aspekte wie militärische Bedrohungen, Bewaffnung, Energieversorgung und hybride Angriffe zu vage blieben. Die am Wochenende vom 5./6. März verteilte Version soll zudem eine härtere Gangart gegenüber Russland, von dem die Bedrohung für die europäische Sicherheit ausgeht, vorschlagen. Die Fähigkeit zur schnellen Reaktion soll noch stärker betont sein, wobei sie sich nach in Brüssel kursierenden Informationen auf den Einsatz von Eingreiftruppen fokussiert. Ziel bleibt wohl weiterhin, bis 2025 über eine Battlegroup-Fähigkeit zu verfügen.

Angesichts des Umfangs und der Tragweite der vorgenommenen Revisionen am Strategischen Kompass steht die Verabschiedung in der Diskussion. Einerseits sieht die französische Ratspräsidentschaft in den Verschiebungen der europolitischen Sicherheitslage Grund für einen Aufschub. Demgegenüber will der Auswärtige Dienst der EU an der Verabschiedung auf dem nächsten Gipfel am 24./25. März festhalten. Womöglich wird auf dem informellen Gipfel in Paris in der kommenden Woche eine Weichenstellung erfolgen.

Hans-Uwe Mergener