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Im Gegensatz zur empirisch geprägten Werkstofftechnik vorindustrieller Epochen befasst sich die moderne Werkstoffwissenschaft mit der systematischen Beeinflussung und Vorhersage der Eigenschaften neu entwickelter Materialien. Die diesbezüglichen Prozesse sind jedoch häufig zugleich langwierig und kostenaufwendig, sodass es zehn oder mehr Jahre dauern kann, bis ein vielversprechender Kandidat in die Anwendung überführt werden kann. Nach den herausragenden Erfolgen der Technologie des sog. Maschinellen Lernens (ML) in Bereichen wie der Bilderkennung oder der Verarbeitung natürlicher Sprache (Natural Language Processing) werden nun große Hoffnungen darin gesetzt, die Entwicklung neuer oder verbesserter Werkstoffe mit Hilfe von ML deutlich beschleunigen zu können.

Beim Maschinellen Lernen handelt es sich um ein Teilgebiet der Künstlichen Intelligenz, bei dem Computer anhand von Beispieldaten bestimmte Aufgaben erlernen, z. B. ein Objekt auf einem Bild zu erkennen. Ein wichtiger Aspekt ist hierbei, dass das System aber nicht nur aus gegebenen Daten lernen, sondern später auch verallgemeinern, also im Anwendungsfall auch bisher unbekannte Daten bewerten können soll. Im Hinblick auf die Werkstoffentwicklung liegt das große Potenzial des ML in seiner Fähigkeit, auch mit unvollständigem Hintergrundwissen bisher unerkannte Zusammenhänge in einer großen Menge untersuchter Daten identifizieren zu können. So lassen sich z. B. auch unerwartete Auswirkungen des strukturellen Aufbaus eines zu entwickelnden Werkstoffs auf seine makroskopischen Eigenschaften erkennen.

Mit Hilfe von ML neu gefundene oder verbesserte Werkstoffe sind grundsätzlich für eine Vielzahl von Anwendungsfeldern interessant. Beispiele sind Energietechnik (z. B. neue Hochtemperatursupraleiter, verbesserte Batterien oder Brennstoffzellen), Mobilität (z. B. neue Ultrahochtemperaturwerkstoffe für effizientere Triebwerke, verbesserte Kompositwerkstoffe) sowie Sensorikanwendungen (z. B. neuartige 2D-Materialien).

Aber auch für spezifische wehrtechnische Fragestellungen bietet der Einsatz von ML ein großes Potenzial, auch wenn es bisher nur sehr wenige Forschungsarbeiten dazu gibt. ML-Systeme eignen sich besonders dazu, in einer unüberschaubaren Menge an Daten eine geringe Zahl an Treffern ausfindig machen zu können, sodass sich das Auffinden völlig neuer Werkstoffe enorm vereinfachen ließe. Dies könnte genutzt werden, um gezielt nach neuen energetischen Materialien mit einer für bestimmte militärische Fähigkeiten optimalen Eigenschaftskombination zu suchen. Darüber hinaus könnten diese Systeme genutzt werden, um die Eigenschaften möglicher neuer Materialien vorherzusagen. Sogenannte künstliche neuronale Netze wurden etwa bereits erfolgreich eingesetzt, um für gegebene chemische Zusammensetzungen die Detonationsgeschwindigkeit oder die Schlagempfindlichkeit abzuschätzen und so geeignete Kandidaten für weitere Experimente zu bestimmen. Ebenso kann ML auch neue Möglichkeiten eröffnen, verbesserte Materialien für Aufklärung und ABC-Schutz zu entwickeln, etwa Materialien, die Sprengstoffe noch besser detektieren können.

Ein weiteres großes, wehrtechnisch relevantes Anwendungsfeld besteht in der Entwicklung noch schadenstoleranterer Werkstoffe für den Schutz oder für Leichtbaustrukturen verschiedener Arten von luft-, land- und seegestützten Plattformen. Insbesondere erhofft man sich hier, den Übertritt vielversprechender Werkstoffe bzw. Strukturen in die Nutzung durch eine Senkung der häufig noch sehr großen Zahl an aufwendigen experimentellen Untersuchungen verkürzen zu können. Beispiele dafür sind die schnellere Bestimmung der mechanischen Eigenschaften einer großen Zahl neuer Werkstoffe oder des Verhaltens von Bauteilen unter Last bzw. Schadenseintrag sowie die Nutzung von ML-Systemen, die für die Bilderkennung entwickelt wurden, um Auffälligkeiten in mikroskopischen Aufnahmen von Materialgefügen zu erkennen oder sicherheitsrelevante Fehler in Röntgenbildern von Turbinenschaufeln von Flugzeugtriebwerken zu erfassen und zu kategorisieren. Im Bereich der Fertigung könnte der Einsatz von ML große Vorteile bringen, indem z. B. automatisiert die optimalen Prozessparameter bestimmt werden, um eine spezifische Mikrostruktur zu erhalten, die dem Werkstoff erst die gewünschten Eigenschaften verleiht. Hiervon erhofft man sich vor allem neue Impulse für die additive Fertigung metallischer Werkstücke, die unter anderem ebenfalls in effizienteren Flugzeugturbinen zum Einsatz kommen könnten.

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Zwar wurde bereits eine Zahl sehr unterschiedlicher Materialsysteme mittels ML untersucht, doch ist die Technologiereife noch als eher gering einzuschätzen. Durch die dynamische Entwicklung im Bereich Maschinellen Lernens selbst steht eine Vielzahl von einsatzfähigen Systemen zur Verfügung, die auf spezielle Fragestellungen angepasst werden können.

Diese Anpassung ist jedoch derzeit häufig noch komplex und erfordert umfangreiches Expertenwissen. Zudem muss zumeist für jeden Anwendungsfall ein neues System entwickelt bzw. angepasst werden, da sich die Systeme selbst bei verwandten Werkstoffen kaum übertragen lassen.

Dennoch haben die ersten Forschungsarbeiten bereits das enorme Potenzial dieser Technologie gezeigt. Dabei wird ML nicht nur als Ergänzung zu den bisherigen Pfeilern der Werkstoffentwicklung – quantenmechanischen Berechnungen sowie experimentellem und theoretischem Hochdurchsatzscreening – gesehen, sondern es eröffnet völlig neue Möglichkeiten. So können Berechnungen, die sonst Stunden oder Tage an Hochleistungsrechnern in Anspruch genommen hätten, innerhalb von wenigen Millisekunden durchgeführt werden, und es wurden bereits tatsächlich neue Werkstoffe mit unerwarteten Eigenschaftskombinationen gefunden. Aber auch die Kombination von ML-Systemen mit konventionellen Verfahren verspricht eine deutliche Beschleunigung derselben. Bei der Nutzung des Maschinellen Lernens in der Werkstoffentwicklung handelt es sich also um ein neues Paradigma, welches sich entsprechend breitgefächert auswirken wird.

Dr. Ramona Langner