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Beim Besuch des britischen Premierministers Boris Johnson in Kiew am Wochenende ist bekannt geworden, dass zu den Waffenlieferungen des Vereinigten Königreichs zukünftig auch Seezielflugkörper gehören werden. In den Medien wird seitdem das Schiff-Schiff-Flugkörpersystem Harpoon als Option gehandelt. Die am 9. April veröffentlichte Pressemitteilung aus der Downingstreet spricht von einem „neuen ‚Anti-Schiff‘-Flugkörpersystem“. Ein Grund, sich mit den plausiblen Möglichkeiten zu beschäftigen.

Als Prämisse in einem Variantencheck sollte gelten, dass es ein System sein sollte, das nicht an westliche Trägersysteme gebunden wie es bei Flugzeugen und Hubschraubern vielmals der Fall ist. Westliche Flugzeuge oder Hubschrauber, die Lenkwaffensysteme einsetzen, finden sich nicht im Arsenal der ukrainischen Streitkräfte. Somit fällt zum Beispiel der Flugkörper Sea Skua weg. Er ist nur mit den Hubschraubern Sea King und Sea Lynx ‚kompatibel‘. Der in zahlreichen Berichten angeführte Harpoon-Flugkörper wird wie andere Schiff-Schiff-Flugkörpersysteme bei der Royal Navy von schwimmenden Einheiten eingesetzt, darunter den Fregatten Type 23 und den Zerstörern Type 45. Sein Dienstzeitende in der Royal Navy war bereits für 2018 verfügt und ist mittlerweile auf 2023 verschoben worden.

Abhängig von der jeweiligen Variante sind Harpoon-Flugkörper in der Lage, Seeziele in Entfernungen zwischen 50 und 150 Seemeilen zu treffen. Dabei erhält der Flugkörper die Zieldaten vom Bordsystem der jeweiligen Plattform. In der Anflugphase navigiert er trägheitsnavigationsgesteuert. In einer vorzugebenden Distanz zum Ziel übernimmt das flugkörpereigene Radar die Zielverfolgung und bringt die mehr als 200 Kilogramm Sprengladung ins Ziel. Harpoon kommt mit seinem Führungs- und Einsatzsystem GWS 60, das auf seegestützten Einheiten einzurüsten ist.

Anzumerken ist, dass zurzeit kein Küste-Schiff-Flugkörpersystem, das den Harpoon verwendet, existiert. Dänemark, das mit der ‚MOBA Ops‘ über diese Fähigkeit mit dem Harpoon-Flugkörper verfügte, hat sie zwischen 2000 und 2005 aufgegeben. Taiwan ist im Begriff, ein auf Harpoon aufbauendes Küstenverteidigungssystem einzuführen. Die Lieferung des Harpoon Coastal Defense System Launch System (HCDS) wurde im Oktober 2020 im Rahmen eines Foreign Military Sale zwischen Taipeh und Washington vereinbart. Der entsprechende Auftrag wurde am 2. März 2022 an Boeing erteilt.

Plausible Optionen

Im Falle der Ukraine erscheint die Verwendung eines von Land einsetzbaren oder eines leicht in das Bordsystem zu integrierendes Flugkörpersystem plausibler. Weiterhin scheint die geringe Verfügbarkeit bei den britischen Streitkräften gegen Harpoon zu sprechen. Wegen der bevorstehenden Außerdienststellung ist es möglich, dass die Bestände heruntergefahren sind.

Auf sozialen Netzwerken wird Brimstone Sea Spear als denkbare Option diskutiert. Dabei handelt es sich um die Variante einer Panzerabwehrlenkwaffe, die von MBDA für die Royal Air Force gebaut wird. Nach Herstellerangaben ist Brimstone Sea Spear modular aufgebaut und kann in eine Vielzahl von Schiffstypen/-klassen integriert werden. Laut MBDA hat sich der Flugkörper in Afghanistan, Libyen und Syrien bewährt. In den Firmentests soll Sea Spear multiple Ziele erfolgreich bekämpft haben. Eines der Ziele, so der Hersteller, war ein 15 Meter langes Boot, das 20 Knoten lief.

Technische Daten: Länge: 1,8 Meter, Durchmesser 180 Millimeter, Gewicht: 50 Kilogramm, Reichweite 10-12 Kilometer.

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Der Maritime Brimstone, Foto: MBDA

 

Über Brimstone Sea Spear hinaus bietet MBDA andere Flugkörpersysteme an, die für die Ukraine in Frage kommen könnten. Exocet Mobile Coastal, EMC, ist ein auf dem Exocet-Flugkörper beruhendes Küstenverteidigungssystem. Marte Mobile Coastal Defense System (MCDS) verwendet Marte Mk2-Flugkörper (auch bekannt als Sea Killer). Beide Systeme umfassen eigene Sensoren für den autonomen Betrieb und/oder die Anbindung an ein umfassenderes C3I-System und bestehen aus einer mobilen Sensor-, einer mobilen Kontrolleinheit sowie mobile Abschusseinheiten mit je vier Flugkörpern.

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Das EXOCET Mobile Coastal Defence System, Foto: MBDA
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Die mobile Abschusseineinheit des MARTE Mobile Coastal Defence Systems, Foto: MBDA

Offen ist zudem, ob die jetzige Verabredung zu ‚Anti-Schiff‘-Flugkörpern zu dem im November 2021 geschlossenen zwischenstaatlichen Rahmenabkommen gehört. Britischen Presseberichten zufolge sollte es zur Lieferung von zwei Minenabwehrschiffen (MCMV), zur gemeinsamen Herstellung von acht flugkörpertragenden Schiffen, zur Lieferung und Nachrüstung von Waffensystemen für bestehende Schiffe, zur gemeinsamen Herstellung einer Fregatte sowie zur Beratung und technischen Unterstützung beim Bau von Marineinfrastrukturen einschließlich der Lieferung von Ausrüstung beitragen. Der Wert wurde mit 1,7 Milliarden Britischen Pfund (ca. 2,03 Milliarden Euro) beziffert.

Hans Uwe Mergener