US-Marschflugkörper zurück in Deutschland – Die USA beabsichtigen eine Stationierung ab 2026
Brigadegeneral a. D. Heinrich Fischer
Nationale Sicherheitsstrategie der Bundesrepublik Deutschland, Juni 2023:
„Die Bundesregierung wird die Entwicklung und Einführung von Zukunftsfähigkeiten wie abstandsfähige Präzisionswaffen befördern.“
Es ist ein sonniger Herbsttag im Hunsrück. Wir schreiben das Jahr 1987 und befinden uns auf der US Wueschheim Air Station, auch „Pydna Stellung“ genannt, ca. drei Kilometer von Kastellaun, als sich die Stahltore der sechs gehärteten atomsicheren Bunker öffnen und die Werferfahrzeuge mit den Marschflugkörpern Tomahawk BGM-109 Grypon der 38th Tactical MissileWing der US Air Force herausrollen und zu ihrer Feuerstellung irgendwo in Rheinland-Pfalz verlegen. Da es sich um eine Übung handelt verbleiben die thermonuklearen Gefechtsköpfe W 80 mit einer Sprengkraft von bis zu 150 Kilotonnen im Sondermunitionslager in sicherer Verwahrung.
Als Folge des INF-Vertrages wurde die 38th Tactical Missile Wing 1990 außer Dienst gestellt, ihre nuklearfähigen Tomahawk-Gefechtsköpfe in die USA verbracht und dort vernichtet sowie das Gelände der Pydna Stellung 1993 der Bundesrepublik zurück übertragen. Heute erinnert nur noch ein Mahnschild der Friedensinitiative Rhein-Hunsrück-Nahe-Mosel an die ehemalige Nutzung des Geländes.
Am 10. Juli 2024 gaben die USA und die Bundesrepublik Deutschland anlässlich des Jubiläumsgipfels zum 75-jährigen Bestehens der NATO in Washington folgende gemeinsame Erklärung zur Stationierung weitreichender Waffensysteme in Deutschland ab:
„Die Vereinigten Staaten von Amerika werden, beginnend 2026, als Teil der Planung zu deren dauerhafter Stationierung, zeitweilig weitreichende Waffensysteme ihrer Multi-Domain Task Force in Deutschland stationieren. Diese konventionellen Einheiten werden bei voller Entwicklung SM-6, Tomahawks und derzeit in Entwicklung befindliche hypersonische Waffen umfassen. Diese werden über deutlich größere Reichweite als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa verfügen.
Die Beübung dieser fortgeschrittenen Fähigkeiten verdeutlichen die Verpflichtung der Vereinigten Staaten von Amerika zur NATO sowie ihren Beitrag zur integrierten europäischen Abschreckung.“
Mit dieser gemeinsamen Erklärung ist der Weg geebnet für die Rückkehr von US-Marschflugkörpern nach Deutschland; dieses Mal allerdings in einer konventionellen Rolle zur Implementierung des Multi-Domain Operations Konzept im Verantwortungsbereich der US Army Europe and Africa.
US Army Multi Domain Operations
Die zentrale Idee des US Army Multi Domain Operations (MDO) Konzepts ist die schnelle und kontinuierliche Integration aller Domänen der Kriegführung mit dem Ziel einer hohen Abschreckungswirkung vor dem Ausbruch von Feindseligkeiten. Sollte die Abschreckung versagen, wird die US Army zunächst vorrangig die gegnerischen Anti- Access/Area Denial (A2/AD) Fähigkeiten bekämpfen und desintegrieren. Anti Access ist die Fähigkeit, gegnerischen Streitkräften das Eindringen in einen Operationsraum zu verwehren, während Area Denial auf das Verwehren der Operationsfreiheit im Einsatzraum abzielt. Mit der durch den erfolgreichen Kampf gegen die gegnerischen A2/AD Systeme gewonnenen eigenen Operationsfreiheit soll dann der Gegner geschlagen und damit die eigenen Ziele erreicht werden.
Dazu sieht das Konzept ein Vorgehen in folgenden fünf Phasen vor:
- Competition („Wettstreit“). Diese Phase liegt zeitlich vor dem Beginn einer bewaffneten Auseinandersetzung. Potentielle feindliche Kräfte, insbesondere deren A2/AD-Fähigkeiten werden lückenlos überwacht um den Übergang zu Kampfhandlungen bruchfrei sicherzustellen. Gleichzeitig läuft die Aufklärung und Abwehr von verdeckten Cyber – und Informationsoperationen.
- Penetrate („Eindringen“). In dieser Phase erfolgt die unverzügliche Neutralisierung der feindlichen A2/AD Langstreckensysteme, um so die Voraussetzungen für eigene strategisch-operative Truppenverlegungen in den Einsatzraum zu schaffen.
- Dis-Integrate („Desintegrieren“). In besonders wichtigen Räumen bzw. Schlüsselgelände werden gegnerische A2/AD-Systeme mittlerer Reichweite ausgeschaltet um so den eigenen Kräften taktische Verlegungen zu ermöglichen.
- Exploit („Ausnutzen“). Die eigene Wirkung schafft Handlungsspielraum, der im Sinne der strategisch operativen Gesamtidee zur Zielerreichung ausgenutzt wird. Eine Reintergration der feindlichen A2/AD-Fähigkeiten gilt es zu verhindern.
- Return to Competition („Rückkehr zum Wettstreit“). Hier wird der Handlungsspielraum genutzt, die Kriegshandlungen zu beenden und ein Sicherheitsumfeld zu schaffen, was langfristige Abschreckung ermöglicht.
Diese fünf Phasen darf man nicht trennscharf verstehen. Zeitlich und regional sind fließende Grenzen und Überlappungen durchaus wahrscheinlich.
Die Umsetzung des Konzepts erfolgt über die Multi- Domain Task Force (MDTF).
Die Multi-Domain Task Force
Die MDTF ist ein Strukturelement der US Army und auf Theater Level angesiedelt. Sie synchronisiert dimensionsübergreifende Effekte und weitreichendes Präzisionsfeuer vor allem gegen feindliche A2/AD Fähigkeiten Kräfte und ermöglicht damit der Joint Force das Erreichen ihrer operativen Ziele. Ihre Hauptfunktionen sind folglich: Wirkung durch multiple Effekte, Feuerunterstützung in die Tiefe, Schutz vor allem gegen Luftfeind und eigene Durchhaltefähigkeit.
Aus diesen Hauptfunktionen leitet sich die Grundgliederung einer MDTF her. Sie umfasst ein I2CEWS (Intelligence, Information, Cyber, Electronic Warfare, Space) Bataillon, ein Strategic Fires Bataillon, ein Air Defense Bataillon und ein Brigade Support Bataillon. Abweichungen von dieser Grundgliederung sind je nach den operativen Bedürfnissen im regionalen Zuständigkeitsbereich eines Theater Level Commands möglich.
Von besonderem Interesse ist das Strategic Fires Bataillon, da es den strukturellen Rahmen bildet für die beabsichtigte Verlegung der US-Marschflugkörper und hypersonischen Waffen nach Deutschland. Ein Strategic Fires Bataillon führt eine High Mobility Artillery Rocket System (HIMARS) Batterie, eine Strategic Mid Range Fires (SMRF) Typhon-Batterie und eine Long Range Hypersonic Weapon (LRHW) Dark Eagle-Batterie.
Die Typhon-Batterie besteht aus einem Batteriegefechtsstand, vier Raketenwerfern und weiteren Führungs -und Versorgungsfahrzeugen. Das Typhon System kann sowohl SM-6-Raketen als auch Tomhawk-Marschflugkörper aus dem containerisierten Transport- und Werfersystem MK 70 Mod 1 mit vier Zellen verschießen.
Die Tomahawk ist ein auch im Einsatz schon bewährter Marschflugkörper, der bei einer Geschwindigkeit von ca. 880 Stundenkilometern eine Reichweite über 1.000 Kilometer erreicht. Er ist mit einem konventionellen Gefechtskopf mit 450 Kilogramm Sprengkraft armiert. Die Navigation ist GPS gestützt, ergänzt um eine inertiales Navigationssystem.
Dies ermöglicht eine gute Durchsetzungsfähigkeit und eine Präzision von ca. 10 Metern.
Die S-M6 ist eine mehrrollenfähige Rakete, die zur Luftverteidigung einschließlich der Abwehr ballistischer Raketen in ihrer Endflugphase und zur Schiffsbekämpfung zum Einsatz kommt. Sie trägt einen Splittergefechtskopf und hat eine Reichweite von 370 Kilometern. In einer modifizierten Version kann sie auch gegen Bodenziele eingesetzt werden.
Die Dark Eagle-Batterie besteht ebenfalls aus einem Batteriegefechtsstand, vier Raketenwerfern und weiteren Führungs- und Versorgungsfahrzeugen. Die LRHW befindet sich in der Endphase ihrer Entwicklung. Mit einer Geschwindigkeit von Mach 5 hat sie eine Reichweite von über 2.500 Kilometern.
Im September 2021 wurde die 2. MDTF in Deutschland in Dienst gestellt. Ihr folgte im November 2021 die Reaktivierung des 56. Artillery Command als Theater Fires Command. Beide Dienststellen sind in Mainz-Kastel stationiert. Die 2. MDTF und das 56. Artillery Command synchronisieren weitreichendes Feuer sowie alle anderen Effektoren domänenübergreifend. Weiterhin stellen sie Aufklärungs-, Raum-, Cyber- und Elektronische Kampfführungsfähigkeiten für die US Army Europe and Africa bereit. Das für die 2. MDTF vorgesehene Strategic Fires Bataillon wird zzt. in Fort Drum, NY, aufgestellt und soll 2026 nach Deutschland verlegt werden. Dieser Verband bildet den
strukturellen Rahmen für die Stationierung der in Deutschland vorgesehenen weitreichenden Waffensysteme.
Bewertung
Die gemeinsame Erklärung der Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland vom 10. Juli 2024 zur Stationierung von weitreichenden Waffensystemen in Deutschland hat sowohl eine sicherheitspolitische als auch strategisch operative Dimension. Die Erklärung ist ein deutliches Bekenntnis der NATO-Führungsmacht USA zum Bündnis und bringt die amerikanische Bündnissolidarität zum Ausdruck. Gleichzeitig wird somit das Vertrauen der anderen NATO-Mitgliedstaaten in die Führungsrolle der USA gestärkt. Inwieweit dieses amerikanische Bekenntnis zum Bündnis zukünftig Bestand hat wird die nächste Präsidentschaftswahl zeigen.
Die Stationierung in Deutschland zeigt auch welche geostrategische Bedeutung unser Land für die USA darstellt. An den Reaktionen aus dem Kreml lässt sich der gestiegene Abschreckungswert ablesen, der durch die beabsichtigte Stationierung dieser Waffenkategorie erzielt werden kann.
Das Strategische Konzept der NATO hat Russland eindeutig als größte und unmittelbarste Bedrohung identifiziert. Die derzeit größte Bedrohung geht von den russischen Abstandsfähigkeiten im Bereich seiner Mittel- und Langstreckenwaffen aus. Mit dieser Abstandsfähigkeit reicht Russland bis tief in das Bündnisgebiet hinein und kann so bereits früh eigenen Truppen ihre Bewegungsfreiheit nehmen. Die russische ausgeprägte A2/AD Fähigkeit stützt sich auf 3 Säulen:
Eine leistungsfähige weltraumgestützte Fähigkeit zur flächendeckenden Aufklärung und Überwachung bis tief in das Bündnisgebiet einschließlich der Bereitstellung von Zieldaten.
Ein weitreichendes und präzises Wirksystem, bestehend aus Raketenartillerie mit einer Reichweite bis 500 Kilometern (z. B. Iskander), Langstreckensystemen mit weit über 1.000 km Reichweite (z. B. Kalibr) und Hyperschallsysteme unterschiedlicher Bauart (z. B. Kinschal) und Reichweiten über 2.000 Kilometern sowie einem Flug- und Raketenabwehrsystem gegen Drohnen, Marschflugkörper, Raketen und Luftstreitkräfte.
Gegen dieses russische A2/AD-Potential besteht derzeit seitens der NATO eine deutliche Fähigkeitslücke. Selbst mit Einführung der amerikanischen Precision Strike Missile für die HIMARS bzw. MARS Raketenwerfer mit einer Reichweite von 500 Kilometern könnten die russischen Waffensysteme mittlerer und großer Reichweite des A2/AD-Komplexes nicht wirkungsvoll bekämpft werden.
Daraus ergeben sich spürbare Nachteile für die eigene Operationsführung. Die Bewegungsfreiheit eigener Kräfte wird nachhaltig beeinträchtigt und der Aufmarsch und die operative und taktische Verlegung von Landstreitkräften maßgeblich in Frage gestellt.
Insbesondere mit Blick auf die Stationierung der russischen A2/AD-Kapazitäten in der Enklave Kaliningrad mit ihren Wirkungsmöglichkeiten nach Zentraleuropa und im Ostseeraum entsteht eine reale Bedrohung für die NATO-Verteidigungsplanung. Die unverzichtbare Verlegung von Landstreitkräften aus dem Zentrum an die NATO-Ostflanke kann nicht zeitgerecht und in der gebotenen Stärke erfolgen und ein Zusammenbruch der Verteidigung durch die In-Place Forces würde beschleunigt. Einer verschärften Bedrohung in diesem Prozess wäre das Territorium der Bundesrepublik Deutschland in seiner Rolle als strategisch logistische Drehscheibe ausgesetzt.
Mit der beabsichtigten Stationierung des Strategic Fires Bataillon mit seinen weitreichenden Waffensystemen im Rahmen der 2. MDTF in Deutschland wird diese Fähigkeitslücke geschlossen. Das Entfernungsband der wirksamen Reichweiten reicht vom HIMARS bis 500 Kilometer über Typhon mit Reichweiten über 1.000 Kilometern bis zu ca. 2.500 Kilometern mit dem System Dark Eagle. Dieser Schritt ermöglicht nicht nur die Implementierung der Verteidigungsplanung der NATO sondern verbessert auch den Schutz Deutschlands. Der deutliche konventionelle Fähigkeitszuwachs der NATO verstärkt zudem die Glaubwürdigkeit ihrer Abschreckungsstrategie bei gleichzeitiger Anhebung der nuklearen Schwelle.
Fazit
Die gemeinsam von den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland beabsichtigte Stationierung von weitreichenden Waffensystemen ab 2026 in Deutschland ist nicht nur zeitlich überfällig, sondern aufgrund der Bedrohungslage in Europa durch den russischen A2/AD-Komplex dringend geboten. Die Entscheidung hat eine sicherheitspolitische und eine strategisch-operative Dimension. Sie setzt im Bündnis ein klares Signal der USA als Führungsmacht und verbessert die Glaubwürdigkeit der Abschreckung durch einen konventionellen Fähigkeitszuwachs. Dieser Fähigkeitszuwachs schafft die Voraussetzungen für ein wirkungsvolles Bekämpfen des russischen A2/AD-Potentials und damit für die Umsetzung der Verteidigungsplanung in wirksames militärisches Handeln. Es bleibt zu hoffen, dass es der Politischen Leitung und der Militärischen Führung in Deutschland gelingt, die notwendige Überzeugungsarbeit für diesen wichtigen Schritt zur Sicherheit unseres Landes zu leisten, um so dem Phänomen der Selbstabschreckung rechtzeitig den Nährboden zu entziehen.
Brigadegeneral a. D. Heinrich Fischer war zuletzt Kommandeur Heeresschulen und Stellvertretender Amtschef Heeresamt.