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In den letzten wenigen Jahren hat sich die sicherheitspolitische Landschaft Europas und Deutschlands verändert wie nie zuvor. Die Rückkehr von militärischen Konflikten auf dem Kontinent und die zunehmenden geopolitischen Spannungen haben eine grundlegende Diskussion über die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands und die Rolle der Wehrpflicht neu entfacht. Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen haben viele Deutsche dazu veranlasst, über den Sinn und die Notwendigkeit einer Wehrpflicht nachzudenken. Im Mittelpunkt dieser Debatte stehen Verteidigungsminister Boris Pistorius, und seine Pläne zur Wiedereinführung einer Wehrpflicht.

Die gesellschaftliche Situation

Foto: Privat

In der deutschen Gesellschaft ist die Rückkehr zur Wehrpflicht ein stark umstrittenes Thema. Während einige Teile der Bevölkerung eine verstärkte militärische Präsenz und eine umfassende Verteidigungsbereitschaft begrüßen, stehen viele der Idee skeptisch gegenüber. Deutschland hat seit 2011 keine Wehrpflicht mehr, was zu einer drastischen Reduzierung der aktiven Truppenstärke und der Reservekräfte führte. Die Bundeswehr besteht mittlerweile aus Freiwilligen, was zwar Flexibilität mit sich bringt, aber auch die Frage nach der umfassenden Verfügbarkeit und dem allgemeinen Sicherheitsbewusstsein aufwirft. Hinzu kommt, dass durch die massiven Schließungen der Standorte in den letzten Jahrzehnten die Streitkräfte nicht nur aus den Familien, sondern auch aus der Fläche und damit aus jeder Sichtbarkeit verschwunden ist. Ein Bonmot ist in diesem Zusammenhang, dass jede Reform oder Strukturveränderung, schlimmer noch die sogenannten „Synergieeffekte“ in den letzten Jahrzehnten ausnahmslos mit einer Stärkung der Einsatzbereitschaft begründet wurden – mit dem bekannten Ergebnis: Streitkräfte, die nur deshalb noch als solche funktionieren, weil sie von hochmotivierten Soldatinnen und Soldaten mit außergewöhnlichem Engagement am Leben erhalten wurden, trotz beklagenswerter Infrastruktur und am Tagesgeschehen ausgerichteten Rüstungsinvestitionen. Die nun beschlossenen massiven Investitionen setzen aber eben diese Soldatinnen und Soldaten sowie die zivilen Mitarbeitenden der Bundeswehr zusätzlich unter Druck.

Eine Wiedereinführung der Wehrpflicht brächte zudem gesellschaftliche Veränderungen mit sich. Schätzungen zufolge könnten Zigtausende junger Männer jedes Jahr zum Wehrdienst verpflichtet werden. Eine Verpflichtung, die nach derzeit geltender Rechtslage allerdings nur für junge, gesunde deutsche Männer gölte. Dies würde nicht nur Auswirkungen auf die Personalstruktur in der Bundeswehr haben, sondern auch den zivilen Alltag, die Ausbildungsbetriebe und die Hochschulen beeinflussen. Die Diskussion über die Wehrpflicht wird daher häufig nicht nur in militärischen, sondern auch in sozialen und wirtschaftlichen Kontexten geführt.

Politische Debatte

Die politische Debatte über die Wiederherstellung der Wehrpflicht wird von vielen unterschiedlichen Akteuren geprägt. Die Union, die Grünen und die SPD bringen jeweils unterschiedliche Perspektiven in die Diskussion ein. Während die Union häufig eine Stärkung der Verteidigungsfähigkeit unterstellt (ohne allerdings konkrete Vorschläge zu unterbreiten, wie diese aussehen könnte), argumentieren die Grünen, dass ein modernes Sicherheitskonzept nicht auf einer Wehrpflicht basieren sollte, sondern auf internationaler Kooperationen und Diplomatie. Die SPD führt zusätzlich noch den Eingriff in die Lebensplanung der dann Wehrpflichtigen an und erwartet, dass „Wehrgerechtigkeit“ nicht nur eine Farce ist, wie sie es in den 90er Jahren ohne Zweifel war. Die FDP ist gegen jede Pflicht und kosten darf es ohnehin nichts.

Ein wesentlicher Punkt in dieser Debatte sind die demografischen Veränderungen. Die Bundeswehr hat Schwierigkeiten, ausreichend Soldaten zu gewinnen. Die Einführung einer Wehrpflicht könnte als Teil eines Maßnahmenpaketes gesehen werden, um diese Lücke zu schließen. Gleichzeitig könnte eine Wehrpflicht auch in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext diskutiert werden: Die Möglichkeit, dass junge Menschen durch den Wehrdienst soziale Verantwortung und Disziplin erlernen, wird von Befürwortern hervorgehoben.

Kritiker hingegen argumentieren, dass es nicht die Aufgabe einer Armee sein kann, vermeintliche Defizite in der Charakterbildung junger Menschen auszugleichen, die Elternhäuser und Schulen hier vermeintlich hinterlassen haben.

Die Pläne von Boris Pistorius

Boris Pistorius, seit 2022 im Amt, hat das Thema Wehrpflicht aufgegriffen und betont, dass die Bundeswehr angesichts der aktuellen globalen Sicherheitslage reformiert werden müsse. In zahlreichen Interviews und öffentlichen Auftritten äußerte er, dass eine Verstärkung der Truppenstärke und der Bereitschaft zur Verteidigung notwendig sei.

Pistorius schlägt vor, eine Art „Dienst für die Sicherheit“ in Betracht zu ziehen, das heißt, eine kombinierte Form von militärischer und ziviler Dienstpflicht, die jungen Menschen Flexibilität und vielfältige Erfahrungen bieten könnte.

Er stellt sich eine modernisierte Wehrpflicht vor, die nicht nur militärische Aufgaben einschließt, sondern auch Elemente der Katastrophenhilfe und des zivilen Schutzes.

Pistorius betont, dass die Aufgabe der Bundeswehr nicht nur den Schutz Deutschlands, sondern auch die internationale Zusammenarbeit und Humanitäre Aufgaben umfasst. Diese Idee könnte insbesondere in der jungen Generation Anklang finden, die mehr als nur militärische Ausbildung und Dienstpflicht sucht.

Allerdings sieht Pistorius auch die Herausforderungen, die mit einer solchen reformierten Wehrpflicht verbunden sind. Fragen der Integration, der Ausbildung und der gesellschaftlichen Akzeptanz müssen gründlich erörtert werden. Einige Experten warnen davor, dass der Wehrdienst auch eine unwillkommene Ablenkung darstellen könnte, insbesondere in einer Zeit großer technologischer Veränderungen. Der Fokus sollte nicht allein auf der Ausbildung zur klassischen Landesverteidigung gelegt werden, sondern auf der Entwicklung von Fähigkeiten, die auch in Krisenzeiten von Bedeutung sind.

Fazit: Ein Umstrittenes Vorhaben

Die Diskussion um eine Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland ist von Emotionen und Ideologien geprägt. Während einige die Rückkehr zu einer Pflichtarmee als notwendigen Schritt zur Sicherung der nationalen und internationalen Sicherheit ansehen, betrachten andere sie als Rückschritt in alte Denkmuster. Boris Pistorius‘ Pläne für eine Kombination aus Wehr- und Zivildienst könnten ein Mittelweg sein, müssen jedoch in der politischen und gesellschaftlichen Debatte weiter entschlossen ausgearbeitet werden.

Die Reaktionen aus der Bevölkerung und den politischen Reihen werden entscheidend dafür sein, ob diese Ideen tatsächlich in die Tat umgesetzt werden können. Für die kommenden Monate bleibt abzuwarten, wie sich die Positionen innerhalb der Parteien entwickeln und ob die Gesellschaft bereit ist, sich auf eine Wehrpflicht wieder einzulassen, die möglicherweise eine (erneute) Transformation der Bundeswehr mit sich bringen würde. Eines ist jedoch sicher: Die Debatte ist erst am Anfang, und die Fragen rund um Sicherheit, Identität und gesellschaftlichen Zusammenhalt werden uns weiterhin begleiten.

Pistorius macht einen guten Job, wenn er nicht müde wird, seine derzeitigen Pläne zu erläutern und der politischen Debatte einen Kurs zu geben. Es geht halt gerade nicht um eine Wehrpflicht als Zwangsmaßnahme, um offene Stellen in den Streitkräften zu füllen, wie dies oft dargestellt wird.

Die Aussetzung der Wehrpflicht durch Verteidigungsminister Dr. zu Guttenberg war vollkommen. Wir wissen heute nicht mehr, wie viele junge deutsche Männer überhaupt gesundheitlich in der Lage wäre, unsere Freiheit zu verteidigen. Wir haben noch nicht einmal die Daten jener Männer (und auch Frauen), die bereits Dienst geleistet haben und so im Falle einer sicherheitspolitischen Krise für irgendeine Aufgabe herangezogen werden könnten.

Jene Behörden, die durch Datenabgleich, Musterungen und Wehrüberwachung einen an sicherheitspolitischen Bedarfen ausgerichteten Personalersatz und die Fähigkeit einer Aufwuchsfähigkeit garantierten, wurden ersatzlos gestrichen, die Gebäude gewinnbringend versilbert; ebenso wurden auch die gesamte Kaserneninfrastruktur und die Ausbildungsorganisation ersatzlos abgewickelt.

Die Herausforderungen sind also enorm. Und deshalb ist Pistorius‘ Vorgehen genau richtig: Es geht nämlich gerade nicht um eine Wehrpflicht alten Musters, sondern um einen realistischen Aufbau von Fähigkeiten.

Als ich selbst Mitte der 90er Jahre gegen meinen erklärten Willen als Wehrpflichtiger eingezogen wurde, mich in einen Uniformmix aus Moleskin und Flecktarn kleiden musste und mein Hauptwaffensystem sich auf den SBU67 (Anm. d. Red.: NVA Schutzumhang/ Poncho) begrenzte, habe ich den Sinn der damaligen Wehrpflicht mehr als in Frage gestellt.

Auf der anderen Seite waren exzellente Ausbilder und charakterstarke Kameraden, die mir den Sinn von Streitkräften und den Wert der gerade nicht selbstverständlichen Freiheit vermittelten.

Schon deshalb darf es eine Wehrpflicht nur um der Pflicht willen nicht geben. Pistorius‘ Vorschlag geht folgerichtig auch weiter: Aufwuchsfähigkeit der Streitkräfte, um überhaupt verteidigen zu können. Mit klarem Fähigkeitsprofil und der notwendigen Ausrüstung und Infrastruktur.

Nur mit diesem Vorgehen kann sich eine Wehrpflicht rechtfertigen. Und nur mit diesem Vorgehen ist sie auch finanzierbar.

Und Pistorius‘ Vorschlag orientiert sich auch am rechtlich machbaren. Es ist nicht hinnehmbar, dass lediglich Männer dieser Pflicht unterliegen sollen. Realistisch ist aber, dass zu viele Fraktionen im deutschen Bundestag einem Scheitern Pistorius‘ den Vorzug geben würden, bevor sie das Grundgesetz verändern.

Die Wiedereinführung der Wehrpflicht ist kein Selbstläufer und Pistorius‘ Planungen stehen am Anfang. Sie sind aber der einzige vorliegende realistische Vorschlag. Ich hoffe, dass die anstehende politischen und gesellschaftlichen Debatte sich an realistischen Rahmenbedingungen orientiert. Einen Zwang zur Sinnlosigkeit wird es nicht geben.

Falko Droßmann, MdB, ist Mitglied des Verteidigungsausschusses, des Unterausschusses Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung und des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe.