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Interview mit dem Kommandeur der Einsatzflottille 1, Flottillenadmiral Christian Bock

ES&T: Herr Admiral Bock, Sie sind seit etwas mehr als drei Jahren Kommandeur der Einsatzflottille 1 und gleichzeitig Director des Centre of Excellence for Operations in Confined and Shallow Waters (Kompetenzzentrum für Operationen in küstennahen und flachen Gewässern COE CSW). Die Einsatzflottille 1 gilt als „Ostseeflottille“. Damit liegt Ihr besonderes Augenmerk auf diesem Einzugsgebiet. Wie bewerten Sie die aktuelle sicherheitspolitische Lage im Ostseeraum?
Bock: Das Augenmerk ist tatsächlich zweigeteilt. Einerseits ist der Wandel des sicherheitspolitischen Umfelds in kaum einer anderen Region in Europa weiterhin so verdichtet, sicht- und spürbar wie im Ostseeraum. Nach all den Veränderungen der letzten Jahre ist die Ostsee ein tägliches Spiegelbild der komplexen Zusammenhänge zwischen Russland und anderen Playern. Nord Stream 2, die Oblast Kaliningrad, Anti-Access Area Denial (A2AD), Zugänge zur Nordsee und zum Hohen Norden sind bekannte Stichworte.

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(Fotos: Bundeswehr)

Alle Ostsee-Anrainerstaaten beobachten – vorsichtig ausgedrückt – mit gemischten Gefühlen die Lageentwicklung. Die strategische Bedeutung des Ostseeraums für die Sicherheit und Stabilität in der Region hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen, insbesondere aus Sicht der NATO und der EU als maritime Drehscheibe mit zentraler Rolle bei der Versorgung und Unterstützung unserer östlichen Alliierten und der Kontrolle, Sicherung und Nutzung der Seeverbindungswege.

Andererseits zeigt die Ostsee auch die Fähigkeiten, die die Marine in einem Zugangs-, Rand- und Flachwassermeer braucht. Da ist sie ein ideales Versuchsfeld für andere Regionen.

Dass sich die Kräfte der Einsatzflottille 1 nur auf die Ostsee kaprizieren, ist ein Trugschluss! Wir können die Erfahrungen unseres „Heimatreviers“ auf viele andere Bereiche projizieren und leisten überall wertvolle Beiträge sowohl für die Landes- und Bündnisverteidigung als auch für das internationale Krisenmanagement. Das gilt für die Aufklärung, den Beitrag zur NATO-Abschreckung bis hin zur Rückversicherung unserer Partner und Verbündeten.

ES&T: Wie können Sie als Einsatzflottille 1 konkret zur Aufklärung beitragen?
Bock: Aufklärung ist eine Daueraufgabe aller Boote und Schiffe der Marine – ein
„Alle-Manns-Manöver“. Längst übernehmen verschiedene Verbände und Dienststellen der Einsatzflottille 1 und darüber hinaus koordiniert gemeinsam gezielte Aufklärungsaufträge.

Für Aufklärung spezialisiert sind natürlich die zum 1. Ubootgeschwader gehörenden Unterseeboote, die dies verdeckt tun, und die in die Jahre gekommenen Flottendienstboote der Klasse 423. Wir erwarten, dass noch dieses Jahr der Vertrag zur Beschaffung der neuen Flottendienstboote der Klasse 424 unterzeichnet wird, mit denen für die Aufklärung in der Teildomäne Unterwasser neue Fähigkeiten eingeführt werden und deren Bedarf sich aus unserem Tagesgeschäft ableiten lässt. Besonderer Fokus liegt dabei auf dem Nutzen des Mediums Wasser nicht nur zur Navigation, sondern vielmehr zur Kommunikation und zum Datenverkehr. Das elektromagnetische Spektrum wird ab einem bestimmten Zeitpunkt einer Krise bzw. eines Konflikts unbrauchbar sein. Das Ausweichen auf den Bereich Unterwasserkommunikation ist eine Lösung. Dieser Bereich ist aktuell ein Schwerpunkt bei der Fähigkeitsentwicklung der Einsatzflottille 1. Es schließt die Beschaffung von unbemannten Unterwasserdrohnen mit verschieden ausgeprägter Sensorbeladung für unterschiedliche Missionen, auch als Ausrüstung von neuen Unterseebooten, mit ein.

Der Marinestützpunkt Kiel ist der Sitz des Hauptquartiers der Einsatzflottille 1, des größten Verbandes der Marine

ES&T: Deutschland ist weltweit führend im U-Bootbau. Derzeit plant Deutschland in Kooperation mit Norwegen die Beschaffung von U212CD. Wie ist da der Sachstand?
Bock: Nachdem sich alle Parteien bei Preisverhandlungen und Design geeinigt haben, erwarte ich für das deutsch-norwegische U-Bootprojekt U212CD (Common Design) noch in diesem Jahr den Vertragsabschluss für insgesamt sechs identische U-Boote. Vier sind für Norwegen vorgesehen, zwei für uns. Dieser U-Boottyp wird über eine deutlich erhöhte Seeausdauer und Mobilität verfügen. Die Boote sind also keine reinen „Ostseeboote“, sondern werden uneingeschränkt sowohl für den Einsatz im „blue water“ als auch im küstennahen „brown water“ geeignet sein. Die strategische Kooperation mit Norwegen ist einmalig und beispielhaft. Die deutschen Einheiten werden ihre planmäßigen Grundüberholungsinstandsetzungen in Norwegen absolvieren. Die Ausbildung kann reziprok in beiden Ländern für alle Besatzungen stattfinden. Die Boote werden zudem erstmalig über eine Torpedoabwehrfähigkeit verfügen. Dieses innovative Projekt wird zudem Impulse für die geplante Obsoleszenzbeseitigung der sechs Bestandsboote des 1. Ubootgeschwaders geben und so maßgeblich zum Fähigkeitserhalt beitragen.

ES&T: Wie sieht die Entwicklung bei den anderen Waffensystemen Ihrer Flottille aus?
Bock: In nahezu allen Bereichen haben wir in der jüngsten Vergangenheit konkrete Erfolge erzielt oder erfolgversprechende Projekte aufsetzen können.
Aktuell steht die Marine vor der Einführung des Drohnensystems zur „Aufklärung und Identifizierung im maritimen Einsatzgebiet“. Damit wird sie ihr erstes bordgestütztes unbemanntes Flugsystem in Betrieb nehmen. Der vorgezogene Teil des Gesamtprojektes soll dazu dienen, praktische Erfahrungen mit dem Betrieb einer Drohne in Zusammenarbeit mit der Korvette 130 zu sammeln. Dazu wurde die Korvette Braunschweig im letzten Jahr mit dem Drohnensystem Sea Falcon ausgestattet. Bei der Sea Falcon handelt es sich um eine Hubschrauberdrohne vom Typ „Skeldar V-200“ des schwedischen Herstellers UMS Skeldar mit einem Startgewicht von bis zu 235 kg. Der Abschluss der Einsatzprüfung soll noch in der ersten Jahreshälfte 2021 erfolgen. Mit dem Gesamtprojekt sollen die Fähigkeiten der Korvette 130 um die Möglichkeit zur Aufklärung und Identifikation von Radarkontakten innerhalb der Radarreichweite der tragenden Einheit ergänzt werden.

Ebenfalls im Laufe dieses Jahres ist die Taufe der Korvette Köln vorgesehen, womit der Zulauf der Korvetten des 2. Loses beginnt. Die Abnahme aller Einheiten durch die Deutsche Marine soll bis Mitte 2025 abgeschlossen sein. Trotz Baugleichheit in wesentlichen Teilen dient das 2. Los auch der Obsoleszenzbeseitigung im ersten Los und steigert somit quantitativ und qualitativ die Fähigkeiten der Deutschen Marine. So handelt es sich bei der Einrüstung neuer Sensoren und Effektoren nahezu ausschließlich um Weiterentwicklungen von Systemen, die bereits im 1. Los verbaut und erfolgreich betrieben wurden.
Mit dem Beginn des Projekts „Spezialisierter Fähigkeitsträger verbundene Seeminenabwehr“ wurde ein wichtiger Schritt zum Erhalt der Fähigkeit zur Seeminenabwehr in der Deutschen Marine über das Jahr 2030 hinaus eingeleitet. Der bewährte Verbund von Minenjagd, Minentauchen und Fernräumen wird fortgeführt. Damit kann auch in Zukunft ein substantieller deutscher Beitrag zum Freihalten der Seewege geleistet werden. Der bewährte Mix aus bemannten und hochgeschützten Fähigkeitsträgern sowie unbemannt und abgesetzt operierenden Systemen wird ebenso fortgesetzt. Der Schwerpunkt der Entwicklung liegt derzeit auf der sogenannten „MCM-Toolbox“, die moderne Technologie für die Bekämpfung unterschiedlicher Seeminen-Typen bereithalten wird. Derzeit werden Optionen geprüft für einen Wirkverbund aus spezialisierten Plattformen (dedicated) zum Operieren in minengefährdeten Gebieten, mobilen Systemen zum Einsatz von Land sowie modularen MCM-Fähigkeiten, die zusätzlich auch von nicht-spezialisierten Plattformen (designated) aus eingesetzt werden können.

Auch bei unseren landgebundenen Verbänden tut sich einiges: Die Bedeutung der maritimen Infrastruktur Deutschlands als Enabler und Force Multiplier in einer zukünftigen Krise oder einen Konflikt in der Ostsee ist unbestritten und wird in zahlreichen aktuellen Dokumenten, in der NATO und national, betont. Dies gilt auch für die jeweiligen Zufahrtswege oder Küstenabschnitte und fällt damit nicht zuletzt in das Portfolio des Seebataillons als jüngstem und facettenreichstem Verband der Einsatzflottille 1. Um die Fähigkeit zur luftgestützten optischen und optronischen Aufklärung im taktischen Nahbereich bereits in der Phase der Einsatzplanung zu schaffen, beispielsweise bei der Sicherung von Land- und Küstenabschnitten von See, wird auch dieser Verband absehbar über eine Drohne (Unpiloted Aerial Vehicle) verfügen, welche in See gestartet und kontrolliert auf dem Wasser gelandet werden kann. Mit der geplanten Beschaffung von Mehrzweckkampfbooten für das Seebataillon wird für den Einsatz von spezialisierten Kräften der Marine im maritimen Umfeld die Möglichkeit eröffnet, diese operativ zu verbringen und ihre taktische Beweglichkeit im Operationsgebiet zu gewährleisten. Die Mehrzweckkampfboote werden daher unter anderem eine hohe Geschwindigkeit und Manövrierfähigkeit, eine Selbstverteidigungs- und eine Abstandsfähigkeit durch Effektoren erreichen sowie wegen geeigneter Transportkapazitäten weltweit verlebar sein.

ES&T: Über die konkreten Rüstungsprojekte hinaus – was gibt es sonst noch für erwähnenswerte Initiativen und Ideen?
Bock: Wir werden die Marineunterwasserortungsstelle zur Schaltzentrale für künftige dimensionsübergreifende Projekte und Operationen modernisieren. Ab 2026 können wir sie dann voll digitalisiert gewissermaßen als Schaltzentrale zur Datenfusion in der Dimension See, also Über- und Unterwasser, aber auch für land- und luftgebundene bzw. Joint-Operationen nutzen. Hier denken wir insbesondere an die Vernetzung auch mit Satelliten, um eine vielseitig nutzbare 3D-Datenfusion für zahlreiche mögliche Anwendungen zu erreichen.

Eine weitere Initiative, um Ressourcen und Expertise zu poolen und auszubauen, ist der Abschluss einer Kooperationsvereinbarung mit der Wehrtechnischen Dienststelle 71 in Eckernförde, die vorrangig für die Marine forscht, entwickelt und erprobt.

Das Kompetenzcenter hat seinen Sitz direkt neben dem Stabsgebäude der Einsatzflottille

Hinzu kommen viele kleine Projekte und Initiativen, mit denen wir versuchen, innovativer, operativer und insgesamt einfach besser zu werden.

ES&T: Wie erwähnt, sind Sie auch der Director des Centre of Excellence for Operations in Confined and Shallow Waters (COE CSW), das sich mit dem Stab der Einsatzflottille Tür an Tür im selben Gebäude befindet. Dies bietet sicherlich nicht nur eine zusätzliche Perspektive auf das Thema Einsatz in Randmeeren allgemein und speziell auf die Ostsee. Auch eine enge Zusammenarbeit liegt doch bestimmt nahe.
Bock: Das ist absolut richtig. Die Gründungsidee für die Aufstellung des COE CSW aus dem Jahr 2007 ist weiterhin gültig. Wir unterstützen mit dem COE CSW die NATO mit unseren besonderen Kenntnissen, Erfahrungen und Fähigkeiten im Bereich der maritimen Operationen in küstennahen Gewässern und stellen dazu Ressourcen der Deutschen Marine in einen multinationalen Rahmen mit Partnern – derzeit sind dies Dänemark, Estland, Griechenland, Italien, Litauen, die Niederlande, Polen, die Türkei sowie die USA. Die Hauptkunden kommen also ganz eindeutig aus der NATO, und zwar aus allen Ebenen der NATO Kommando- und Streitkräftestruktur. So ist es für alle COEs ja auch vorgesehen.
Gleichwohl ergeben sich natürlich Synergien durch die Zusammenführung von Kompetenzen und auch gemeinsame Themenfelder in der täglichen Zusammenarbeit zwischen dem COE CSW und dem Flottillenstab. Dazu möchte ich nur drei Beispiele anführen:

Das COE arbeitet im Bereich der digitalen Unterwasserkommunikation aktiv an der Entwicklung von NATO-Standardisation Agreements (STANAG) zur Stärkung der Interoperabilität im Bündnis. Dazu stützt sich das COE CSW wesentlich auf die operativen Fähigkeiten unserer Ubootwaffe ab, aber darüber hinaus auch auf das technisch-wissenschaftliche Know-How der Wehrtechnischen Dienststelle 71. Ebenso beschäftigt sich das COE CSW mit Studien über die Rollen von Minenabwehrkräften in verschiedenen Kontexten, explizit auch im amphibischen Bereich. Und im Bereich Harbour- and Force Protection und Counter-IED im maritimen Umfeld hat sich das COE in der NATO als Kompetenzträger einen sehr guten Ruf erworben, den wir dadurch unermauern, dass wir Übungen und Erprobungen federführend gestalten. Dies alles sind Bereiche mit vergleichsweise enger Anknüpfung an die bereits beschriebenen Themenbereiche der Einsatzflottille 1.

ES&T: Wie gestaltet sich das Arbeitsprogramm des Centre of Excellence for Operations in Confined and Shallow Waters (COE CSW). Sind Sie in der Wahl ihrer Projekte und Aktivitäten völlig frei?
Bock: In der Tat genießt das COE CSW diesbezüglich – wie andere COEs auch – vergleichsweise hohe Freiheitsgrade. Wir können ergebnisoffen, für und mit allen militärischen Ebenen und „outside the box“ arbeiten. Dazu gewähren uns die Vertreter der Nationen erfahrungsgemäß einen maximalen Spielraum bei der inhaltlichen Ausgestaltung.

Über alle COEs hinweg übt das NATO-Hauptquartier Supreme Allied Command Transformation in Norfolk, Virginia (USA), eine inhaltlich- und administrativ-koordinierende Funktion aus.

Neben der Unterstützung der NATO können sich auch andere Kunden – zum Beispiel Nationen – jederzeit mit einem Unterstützungsersuchen an uns wenden. Damit unterstützt das COE CSW die NATO in den Bereichen Concept Development, Doctrine Development, Training, Exercise Support, Analysis und Lessons Learned. Hierbei arbeiten wir sowohl mit anderen COEs zusammen, im Schwerpunkt mit den maritim geprägten, aber auch mit militärischen, zivilen oder wissenschaftlichen Organisationen oder der Industrie. In zahlreichen Gremien und Arbeitsgruppen der NATO ist das COE CSW in führenden oder unterstützenden Funktionen vertreten. Regelmäßig unterstützen wir die Planung und Durchführung von Übungen. Auch strategisch orientierte Projekte gehören zum Portfolio:

Der Abschluss der Einsatzprüfung der Hubschrauberdrohne vom Typ Skeldar V200 des schwedischen Herstellers UMS Skeldar soll noch in der ersten Jahreshälfte 2021 erfolgen; damit sollen die Fähigkeiten der K130 deutlich erweitert werden

So unterstützen wir unter anderem immer wieder die Münchner Sicherheitskonferenz mit einem Maritime Security Round Table. Wir sind verantwortlich für die jährliche Ausrichtung der internationalen Konferenz zum Operational Maritime Law. Wir haben direkt dem International Staff der NATO zugearbeitet oder unterstützen das U.S. Naval War College bei der Weiterbildung der Combined Forces Maritime Component Commander.

Alle Projekte und Aktivitäten verbindet, dass das COE CSW Zukunftsfelder besetzt, die auch aus deutscher Sicht wichtig sind. Und sie haben immer gemeinsam, dass sie für die NATO relevant sind, die aktuellen Prioritäten berücksichtigen und ganz grundsätzlich immer eng am „maritimen Puls der Zeit“ liegen.

Das Interview führte Hans Uwe Mergener.