Print Friendly, PDF & Email

Die Optimierung von Werkstoffen begleitet uns seit Menschengedenken. Auch heute noch werden zumeist überschaubare Variationen der chemischen Zusammensetzung oder bei den Prozessparametern dazu genutzt, um etablierte Werkstoffe Schritt für Schritt zu verbessern. Allerdings geht man zunehmend den umgekehrten Weg top-down von einer gewünschten Funktionalität bzw. einem spezifischen Anwendungszweck als Ausgangspunkt aus. Der Werkstoff bzw. das Werkstück werden anschließend computerbasiert mit aufwendigen numerischen Verfahren von Grund auf neu generiert. Zu den auf diese Weise entwickelten „Materials of Design“ gehören auch die Architectured Materials, welche sich gegenwärtig im Wesentlichen noch im Stadium der Grundlagenforschung befinden.

Auch eine exakte definitorische Abgrenzung dieser neuen Materialklasse muss sich erst noch ausbilden. Auf jeden Fall geht es um die Einbeziehung architektonischer Merkmale in die Werkstoffentwicklung. So soll die Anordnung von Baueinheiten im dreidimensionalen Raum – neben z. B. chemischer Zusammensetzung und Korngröße – zu einer eigenständigen Stellschraube bei der Entwicklung neuer Werkstoffe gemacht werden. Ziel ist es, die Grenzen der derzeit verfügbaren Kombinationen an Materialeigenschaften auszuweiten. Architectured Materials kombinieren dafür gezielt unterschiedliche Materialien oder aber Material und freien Raum. Das Resultat sind Komposite und Gitter mit einem hochkomplexen hierarchischen Aufbau, der über viele Größenordnungen reicht und zunehmend als Architektur des Werkstoffs bezeichnet wird.

Multifunktionalität ist integraler Bestandteil des Konzepts der Architectured Materials, ein Großteil der Forschungsarbeiten zielt auf die Erweiterung eines Werkstoffs um eine gewünschte Funktionalität ab. Beispiele hierfür sind selbstheilende Fähigkeiten, elektromagnetische Absorption, optimaler Wärmeaustausch, Selbstüberwachung, optische Eigenschaften oder ein negativer thermischer Ausdehnungskoeffizient. Darüber hinaus werden Architectured Materials entwickelt, die über ausgezeichnete mechanische Eigenschaften verfügen, insbesondere eine hohe Schadenstoleranz. Mit diesem Ansatz könnte ein sehr leichtes Material entwickelt werden, das aber gleichzeitig über ein hohes Energieabsorptionsvermögen zur Dämpfung von Druckwellen verfügt, wie sie z. B. bei Explosionen auftreten. In der Luftfahrt könnten Entwicklungen dieser Art zum wirkungsvollen Schutz von Strukturen vor Schall oder Vibrationen eingesetzt werden, auch der Erdbebenschutz soll Anwendungsgebiet solcher Architectured Materials werden. Einen weiteren Aspekt im Bereich der Luftfahrt und auch der Automobilindustrie stellt das Crash-Verhalten unter Berücksichtigung des Leichtbaus dar. Im Bereich der Energieerzeugung könnten Architectured Materials darüber hinaus auch als Trägermaterial für Solarzellen und elektrochemische Generatoren eingesetzt werden. Grundsätzlich ist die Entwicklung von Architectured Materials interessant für Anwendungsbereiche, bei denen konträre Anforderungen von einem einzigen Material erfüllt werden sollen.

Gelingen soll eine solche Multifunktionalisierung eines Werkstoffs durch den Einbau von Design-Elementen wie unterschiedlichsten zellularen, faser-, schicht-, röhren- oder spiralförmigen Strukturelementen, aber auch wiederkehrenden strukturellen Überlagerungen, ineinandergreifenden Nahtstrukturen oder Gradienten in Form eines kontinuierlichen räumlichen Verlaufs. Entscheidend ist die Kombination unterschiedlicher Strukturebenen, meist von makroskopischer Strukturierung bis hinab zur Nanostrukturierung (Multiskalen). So kann eine Eigenschaft des Werkstoffs durch Strukturierung auf z. B. mikroskopischer Ebene erreicht werden, während eine weitere Eigenschaft durch die Kombination von mehreren Design-Elementen auf nanoskopischer Ebene realisiert wird.

Die Verwendung des Begriffs Architectured Material befindet sich noch in einer frühen Phase und ist vor allem in zwei großen und dynamischen Forschungsrichtungen zu beobachten, den periodischen Gitterstrukturen und den Biokompositen. Zu den prominentesten Beispielen zählen Nachbildungen, die sich an natürlichen, extrem widerstandsfähigen Materialien wie Perlmutt oder Knochen orientieren. Sie weisen im Gegensatz zu Gitterstrukturen sehr unterschiedliche Design-Elemente auf, was den Simulationsaufwand deutlich erhöht. Diese Komplexität über mehrere Größenordnungen erfordert sehr spezifische Fertigungsmethoden. Speziell bei Strukturdetails im sub-μm-Bereich stellt die erforderliche Präzision der Baueinheiten einerseits und die Größe des Gesamtobjektes andererseits eine Hürde dar. Die einzigartige Designfreiheit additiver Fertigungsverfahren sowie deren rasante Entwicklung und auch Verbreitung prädestiniert sie zur Herstellung solcher Materialien. Eine gleichzeitige Verarbeitung unterschiedlicher Materialien steht jedoch noch am Anfang der Entwicklung. Mit dieser Komplexität stellt auch die Charakterisierung der Architektur und speziell die Überprüfung integrierter Funktionalitäten eine Herausforderung dar.

Hinter den Architectured Materials steht ein Gesamtkonzept, das die Kernkompetenzen Design der Strukturmerkmale, Fertigungstechnik und Charakterisierung umfasst. Für die Realisierung solcher Strukturen muss daher von hohen Entwicklungskosten ausgegangen werden. Gegenwärtig sind nur wenige Ansätze auf dem Weg in die Kommerzialisierung, allen voran komplexe Gitterstrukturen, die mittelfristig kommerziell verfügbar sein könnten. Deutlich langfristiger ist die Entwicklung praktisch einsatzfähiger, multifunktionaler Multikomponentenmaterialien, wie sie in sehr wenigen Forschungsarbeiten angedacht werden, einzuschätzen, da erst eine stärkere Bündelung der Forschungsbemühungen in den drei benötigten Kernkompetenzen (also Design, Fertigungstechnik, Charakterisierung) gelingen müsste.

Dr. Heike Brandt