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Der neue Luft-Schiff-Lenkflugkörper für die britischen und französischen Streitkräfte hat jetzt mit dem letzten erfolgreichen Qualifikationsschuss die Einsatzreife erreicht. Bei dem von Frankreich und Großbritannien gemeinsam finanzierten Sea Venom (Venom, englisch: Gift), im französischen Sprachgebrauch auch mit dem Kürzel ANL (Anti-Navire Léger = leichter Anti-Schiffsflugkörper) bezeichnet, handelt es sich um einen Lenkflugkörper, mit dem von einem Hubschrauber aus Überwasserziele bekämpft werden können.

Sea Venom / ANL, ein hubschraubergestütztes Lenkflugkörpersystem zur Bekämpfung von Überwasser- und Landzielen, das gemeinsam von der britischen und der französischen Regierung finanziert wird. Für den Hersteller MBDA die Mehrzweck-Angriffswaffe der nächsten Generation., Foto: MBDA

Die 120 kg schwere Rakete verfügt mit ihrem 30 kg schweren Sprengkopf über eine Reichweite von rund 20 Kilometern. Sie kann vorprogrammierte Profile, darunter Tiefstflug (Sea Skimming) und Pop-Up-Angriff, selbstständig abfliegen. Ein Zwei-Wege-Datenlink sendet die Infrarot-Bilder des Suchkopfs an den Trägerhubschrauber, was nicht nur die Präzision erhöht. Der Bediener kann während der gesamten Flugdauer eingreifen. Dies befähigt zu taktischen Finessen und gegebenenfalls einem Zielwechsel. Die Bekämpfung von Landzielen ist möglich. Nach Angaben der Herstellerfirma MBDA lassen sich gleichzeitig mehrere Flugkörper gegen unterschiedliche Ziele einsetzen.

Die Initiative zur Entwicklung von ANL / Sea Venom geht auf Bemühungen von London und Paris zur Entwicklung eines Nachfolge-Flugkörpers für den damals in beiden Marinen genutzten Sea Skua zurück, die schon im Jahr 2001 begannen. Als die britisch-französische sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit mit dem Abkommen von Lancaster House im November 2010 wieder aufgegriffen wurde, erhielt das Programm einen neuen Impetus. Man einigte sich auf ein Kooperationsabkommen zur Entwicklung des ‚Future Air to Surface Guided Weapon (FASGW)‘, die den Luft-Boden-Flugkörper Sea Skua ablösen sollte. Die britische Rüstungsbehörde Defence Equipment and Support (DE&S) schloss stellvertretend für beide Länder mit dem britischen Ableger von MBDA im März 2014 einen Vertrag in Höhe von 500 Millionen Britischen Pfund (nach heutigem Wechselkurs ca. 560 Millionen Euro) zur Entwicklung und Herstellung des Flugkörpers.

So wurde ANL / Sea Venom das erste gemeinsame Programm in der von Frankreich und Großbritannien mit dem Lancaster House.Abkommen von 2010 eingegangenen Verpflichtung, den Rüstungssektors auf beiden Seiten des Ärmelkanals zu straffen. Das führte 2015 zur Regierungsvereinbarung zur der Konsolidierung der britisch-französischen Flugkörperindustrie. Unter dem Druck, Entwicklungskosten zu senken und Investitionen zu optimieren, begaben sich die beiden Länder in eine gegenseitige Abhängigkeit unter Wahrung der jeweiligen strategischen Autonomie. Ziel war, die Kosten bei MBDA um rund ein Drittel zu senken.

AW159 der Royal Navy mit Sea Venom, Foto: Mod UK

Mit dem zweiten erfolgreichen Qualifikationsschiessen scheint das Programm im Zeitplan zu verlaufen. Die Royal Navy wird ANL / Sea Venom in den Hubschraubern AgustaWestland AW159 Lynx Wildcat verwenden. In der französischen Marine, die nach unbestätigten Angaben 100 Flugkörper erhalten wird, ist der Flugkörper für die zukünftigen H160M Guépard vorgesehen, die allerdings erst ab 2025/26 zulaufen.

Zudem teilte die französische Verteidigungsministerin Florence Parly mit, dass MBDA eine neue taktische Luft-Boden-Lenkwaffe (MAST-F) als wichtigste Bewaffnung der französischen Tiger-Kampfhubschrauber entwickeln wird. Im Oktober kündigte das Unternehmen die Markteinführung seines neuen Luftverteidigungssystems VL Mica NG an – eine Weiterentwicklung innerhalb der Luft-Luft-Flugkörperreihe Mica, die für Land- und Marineanwendungen erhältlich sein wird. Marte ER, wie ANL / Sea Venom aus der Kategorie der leichten Luft-Boden-Flugkörper, hatte im Februar eine zweite Testkampagne auf Sardinien abgeschlossen. Die italienische Marine sieht ihn ergänzend zu dem auf Hubschraubern NFH90 und AW101 eingesetzten Marte MK2/S vor.

ANL / Sea Venom und Marte ER könnten Kandidaten für die Flugkörperbewaffnung des Sea Tiger der Deutschen Marine werden.

Hans Uwe Mergener