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Die Bundesregierung hat sich im Entwurf des Haushaltes 2021 erneut zur Beschaffung eines Taktischen Luftverteidigungssystems bekannt. Der Bedarf ist in der Bundesregierung unbestritten. Im aktuellen Rüstungsbericht begründet das Bundesministerium für Verteidigung den Bedarf für das Taktische Luftverteidigungssystem ausdrücklich mit dem wesentlichen Fähigkeitszuwachs im Bereich der bodengebundenen Luftverteidigung und als Beitrag zur NATO-Raketenabwehr.

Im Regierungsentwurf zur Haushaltsaufstellung 2021 und im Finanzplan des Bundes bis 2024 bestätigt die Bundesregierung die bestehenden Fähigkeitslücken der Bundeswehr und bekundet die Absicht, diese schließen zu wollen und damit die Verpflichtungen gegenüber der NATO einhalten zu wollen. Auf Seite 13 des Regierungsentwurfs wird ausdrücklich die Beschaffung des Taktischen Luftverteidigungssystems (TLVS) aufgeführt. Wörtlich heißt es im Beschluss der Bundesregierung:

„Darüber hinaus bekennt sich die Bundesregierung wie im Kabinettbeschluss vom 16. März 2020 festgehalten weiterhin zu ihren Verpflichtungen gegenüber der NATO sowie innerhalb der Europäischen Union.

Es besteht Einvernehmen innerhalb der Bundesregierung, dass bestimmte Großvorhaben zum Schließen von Fähigkeitslücken gemäß dem Fähigkeitsprofil der Bundeswehr und damit zur Wahrnehmung bereits eingegangener internationaler Verpflichtungen finanziert werden und dem Verteidigungshaushalt ermöglicht wird, die insoweit verabredeten Fähigkeitsziele zu erreichen. Dies gilt insbesondere für […] die Beschaffung von Luftfahrzeugen zur U-Boot-Abwehr sowie eines Taktischen Luftverteidigungssystems.“

Allerdings sind im Kapitel 1405 (Militärische Beschaffungen) des vorliegenden Entwurfs noch keine ausreichenden Haushaltsmittel oder Verpflichtungsermächtigungen für das Vorhaben enthalten.

Bedarf

Die Bundesregierung stellt weiter fest:

„Die weltweite sicherheitspolitische Lageentwicklung bestätigt die der Auswahlentscheidung TLVS zugrundeliegenden Überlegungen, insbesondere mit Blick auf das sich rasant weiterentwickelnde technologische Potenzial im Bereich luftgestützter Bedrohungen, dem mit der auf der MEADS-Technologie basierenden, inhärenten Leistungs- und Zukunftsfähigkeit von TLVS wirkungsvoll begegnet werden kann.“

An anderer Stelle heißt es:

 „Der Schutz und die territoriale Integrität Deutschlands und Verbündeter erfordert die Fähigkeit, potenziellen Gegnern den Zugang zu einem Operationsraum zu verwehren. TLVS wird signifikant zur NATO-Raketenabwehr beitragen und maßgeblich für den Schutz eigener Kräfte sowie Verbündeter und Partner sorgen. Als hochbewegliches, leistungsstarkes und modulares System kann es zukünftig im Schwerpunkt nationaler oder multinationaler Luftverteidigung wirken.“

Bedrohung

„Gerade vor dem Hintergrund der dynamischen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen und der gestiegenen konkreten Bedrohungen durch ballistische Flugkörper ist die Bedeutung der Fähigkeit, die mit TLVS potenziell abgebildet wird, immens.“, heißt weiter im aktuellen Rüstungsbericht.

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Die neuartigen, auch als Hyperschall-Waffen bekannten Waffen, wurden mit dem Ziel entwickelt, Abwehrsysteme, über die potentielle Gegner verfügen,  zu überlisten bzw. deren Schutzschirm zu durchdringen. China und Russland entwickeln Systeme, die mit fünffacher Schallgeschwindigkeit agieren können. Damit sind sie in der Regel zu schnell für die derzeitigen Abwehrmaßnahmen. Diese Hyperschall-Waffen verbinden die hohe Geschwindigkeit interkontinentaler ballistischer Raketen (ICBM) mit der Manövrierfähigkeit von Marschflugkörpern.

Russland hat nach eigenen Angaben Ende 2019 ein erstes Regiment mit der Hyperschall-Rakete Avangard ausgerüstet. Die Interkontinentalraketen haben den Angaben zufolge eine Reichweite von 4.000 Kilometern. Die Fluggeschwindigkeit wurde von der Regierung in Moskau mit Mach 20, also der 20-fachen Schallgeschwindigkeit angegeben. Da das Ziel und die Flughöhe noch im Flug geändert werden können, stellen diese Flugkörper für aktuelle Luftverteidigungssysteme eine große Herausforderung dar.

Darüber hinaus entwickelt Russland derzeit einen neuartigen nuklearangetriebenen Lenkflugkörper mit dem NATO-Codenamen SSC-X-9 Skyfall. Dabei handelt es sich bei Skyfall um einen Marschflugkörper, der – bestückt mit Atomsprengköpfen – wegen eines Nuklearantriebs praktisch unbeschränkte Reichweite besitzen und somit auch die Fähigkeit haben soll, Raketenschutzschirme zu umkurven.

China hat auf einem anderen Weg demonstriert, wie 360-Grad-Raketenbedrohungen erreicht werden können. Das Land hat jüngst zum zweiten Mal eine 58-t-Rakete von einem zivilen Frachtschiff aus gestartet und somit demonstriert, dass Bedrohungen unentdeckt in potentiell ungeschützte Bereiche eingeschleust und von dort eigensetzt werden können. Russland verfolgt ein ähnliches Konzept.

Taktisches Luftverteidigungssystem

Voraussetzung für einen wirksamen Schutz gegen diese neuartigen 360-Grad-Bedrohungen ist eine 360-Grad Fähigkeit der Luftverteidigungssysteme. Mit dem neuen Taktischen Luftverteidigungssystem, das die zur Zeit genutzten Patriot-Systeme ersetzen soll, will Deutschland auf diese neuartigen Bedrohungen reagieren. Das Taktische Luftverteidigungssystem bietet Schutz vor einer deutlich größeren Zahl von Bedrohungen, unter anderem durch zwei missionsspezifische Abwehrraketen, erweiterte Sensorfähigkeiten, ein neues Kommunikationssystem, hochentwickelte Software-Algorithmen und höhere Cyber-Sicherheit. So wird das System das erste integrierte Luftverteidigungssystem sein, das mehrere Bedrohungen – auf kurze und mittlere Distanz – simultan verfolgen und abfangen kann und somit einen umfassenden 360-Grad-Schutz ermöglicht. Mit seinem integrierten Plug-and-Fight-Interface ist das Taktische Luftvertedigungssystem weltweit das modernste vernetzte 360-Grad-Luftverteidigungssystem.

Weiterführende Informationen zur Technologie des Systems finden sich in dem Wehrtechnischen Report „Taktisches Luftverteidigungssystem“, der Anfang diesen Jahres im Mittler Report Verlag erschienen ist. Der Report kann hier kostenlos herunter geladen werden.

Finanzierung TLVS noch nicht gesichert

Die Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages ist für Ende November 2020 geplant. Erst dann wird sich rausstellen ob die für die Realisierung des Projekts notwendigen Haushaltsmittel im endgültigen Haushalt 2021 und im mittelfristigen Finanzplan ausgewiesen werden.

Nach wie vor ist es Ziel des TLVS-Bieterkonsortiums, rechtzeitig alle Voraussetzungen zu schaffen, um den Vertrag in dieser Legislaturperiode dem Deutschen Bundestag zur Genehmigung vorzulegen. Dazu hat das Bieterkonsortium, das aus einem Joint Venture von MBDA Deutschland und Lockheed Martin besteht, bereits Mitte August 2020 ein aktualisiertes Angebot beim Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr eingereicht. ES&T berichtete.

Jürgen Hensel