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Plötzlicher Ausbruch eines neuen Virus. Verbreitung weltweit. Geschätzte Infektionszahlen bei Unterlassen frühzeitiger antiepidemischer Maßnahmen millionenstellig.

Erste Versorgungsengpässe sowie Einbrüche im Finanz- und Wirtschaftssektor. Teilweise oder vollständige Abriegelung von EU-Staaten. Zeitgleicher Ansturm von Migranten an den Grenzen eines EU-Landes. Gesamtzahl der aus dem Herkunftsland zu erwartenden Flüchtenden gleichfalls in Millionenhöhe. Derweil vernichten in Afrika Heuschrecken die Ernte eines Drittels des Kontinents. Prognostizierte Zahl hungernder Menschen im zweistelligen Millionenbereich. Zu Beginn des Sommers drohen weitere Krisenlagen und Katastrophen. Klimabedingte Brände, Unwetter, Stürme und Überschwemmungen. Überdies Zuspitzung der Lage im Nahen Osten.

Das gleichzeitige Auftreten krisenhafter Ereignisse ist kein Science Fiction-Szenario, sondern Realität. Die Deutschen und mit ihnen viele andere leben in dieser Lage, die unmittelbar Gesundheit und Leben von Millionen bedroht. Es ist ein Testfall für das Funktionieren der deutschen Sicherheitsarchitektur. Während internationale Partner längst rigide Maßnahmen gegen die Weiterverbreitung des neuartigen Corona-Virus COVID-19 an Grenzen, Flughäfen und im Inland eingeleitet hatten, diskutierten in der Bundesrepublik Politik und Experten noch die Absage von Großveranstaltungen. Auch eine Handreichung an die Bevölkerung über notwendige Maßnahmen zur Vermeidung von Ansteckung oder die Verteilung von Schutzmaterial wurde hierzulande nicht zügig ins Werk gesetzt. Obwohl richtiges Verhalten bei jeder Pandemie – unabhängig von der Schwere der Krankheit – der Schlüssel zur Verlangsamung der Virus-Proliferation über den menschlichen Wirt ist. Entscheidungen zur Schließung von Kindergärten, Schulen, Universitäten, Museen, Theatern, Kinos, Behördenkantinen, Fitness- und Nachtclubs oder zur Absage von Messen und sportlichen Veranstaltungen kamen ebenfalls nur schleppend in Gang. Kommunale Ebene und Amtsärzte sahen sich über große Strecken auf sich allein gestellt, weil nach der aktuellen Rechtslage zum Bevölkerungs- und Katastrophenschutz Zuständigkeiten und Umsetzung von Pandemieplänen bei den Ländern liegen. Der Bund kann grundsätzlich nicht zentral eingreifen. Allerdings brachte die Bundesregierung ein Liquiditätsprogramm und Zuschüsse für Kurzarbeitergeld für betroffene Unternehmen auf den Weg, um die wirtschaftlichen Folgen der zu erwartenden Produktionsausfälle, Umsatzeinbrüche und Personalknappheit abzumildern. Zur Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit wurden überdies u. a. das Sonntagsfahrverbot aufgehoben und die Wochenendproduktion gefördert.

Institutionelle Defizite der deutschen Sicherheitsarchitektur immer deutlicher

Die institutionelle Antwort der Bundesregierung war jedoch keine vor allem keine institutionell verstetigte oder umfassende. Der zur Bearbeitung der Corona-Lage eingerichtete Krisenstab aus Gesundheits- und Innenressort ist ein Ad-hoc-Gremium mit medizinischem Fokus, das zudem andere betroffene Politikbereiche als die im Gremium vertretenen nicht bearbeitet. Dabei sind neben diesen Ressorts von der Krise auch Auswärtiges, Verteidigung, Wirtschaft, Verkehr und Landwirtschaft betroffen. Bei funktioneller Betrachtung entspricht der als Änderung der Arbeitsstrukturen der Bundesregierung angekündigte neue Kabinettsausschuss aus Bundeskanzlerin, Vizekanzler, Innen- und Außenminister, Gesundheitsminister und Bundesministerin der Verteidigung dem sogenannten Sicherheitskabinett aus Kernministerien, wie es frühere Kanzler, zuletzt als Reaktion auf erhöhte Terrorgefahr, einberiefen. In Kombination mit dem Krisenstab mag dieser zielführend wirken. Institutionell wie funktionell wenig sinnvoll sind jedoch die Doppelung des Bundesinnenministeriums und das Fehlen der Minister für Wirtschaft, Verkehr und Landwirtschaft. Für Krisenprävention, -bearbeitung und -nachbereitung wäre es zweckmäßiger, Vertreter aller Ressorts schon vor dem Ausbruch von Krisen in einer zentralen, regelmäßig tagenden Institution zusammenzuführen.

Im Verlauf der Corona-Krise traten die Defizite der deutschen Sicherheitsarchitektur besonders deutlich zutage: Es fehlt eine übergeordnete, zentrale Institution, die Maßnahmen für das gesamte Bundesgebiet frühzeitig anweist. Und zwar auf der Grundlage ziviler und militärischer Informationen sowie von Analysen zur strategischen Vorausschau, die diese Institution im Vorfeld für Gefahrenlagen jeglicher Art gebündelt und ausgewertet hat. Ad hoc einberufene Gremien wie Krisenstäbe und Sicherheitskabinette erhöhen in Ermangelung solcher Vorbereitung die Wahrscheinlichkeit von Verzögerungen, gerade wenn schnelles Handeln gefordert ist. Außerdem taugen diese wenig, wenn sie nach Beendigung einer Krise aufgelöst werden, ohne die Lage nachbereitet zu haben. Nach der Krise ist stets vor der Krise. Auch unter diesem Aspekt fehlt im derzeitigen Gefüge deutscher Sicherheitsinstitutionen eine rund um die Uhr arbeitende übergeordnete Behörde. Insgesamt sind plötzlich auftretende krisenhafte Ereignisse nur erfolgreich zu bewältigen, wenn sie antizipiert, Entscheidungs- und Handlungsketten konzipiert und eingeübt sowie Schutzausrüstungen vorgehalten werden. Die Länder, in deren Zuständigkeit Katastrophenschutz noch fällt, sind damit in komplexen Krisenszenarien in jeder Phase überfordert, insbesondere wenn sie auf sich gestellt isoliert Entscheidungen treffen müssen. Dies gilt auch für Kommunen oder Unternehmen. Hier offenbart sich ein rechtliches Defizit des deutschen Sicherheitsgefüges, das durch Übertragung der Kompetenz auf den Bund gelöst werden könnte. Schon eine Teilkrise wie COVID-19 hat die Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik an ihre Grenzen geführt. Die Frage, ob Deutschland einen Nationalen Sicherheitsrat braucht, ist damit beantwortet. Bedarf geht vor Bedenken. Mut und Machen, Handeln statt Harren ist das Gebot der Stunde. Mit einer übergeordneten Sicherheitsinstitution, die mit einem Vorrat an Analysen selbst komplexe Krisengebinde bewältigen kann. Lediglich das Wie ist kontrovers.

Schneller und besser handeln mit einem Nationalen Sicherheitsrat

Aufwertung des Bundessicherheitsrates (BSR) oder Schaffung eines Nationalen Sicherheitsrates (NSR). Hierzu lassen Entscheider, Experten oder Talkshow-Gastgeber in Deutschland vermehrt den Blick schweifen. Nach internationalen Vorbildern. Nach einem Modell, das Föderalismus- und Ressortprinzip wahrt und koalitionspolitischen Stürmen standhält. Nach dem Nutzen für das deutsche Sicherheitsgefüge. Aber auch nach Fallstricken. Wie viel politischen Willen und welchen organisatorischen Aufwand würde es erfordern, einen NSR zu etablieren? Bliebe man nicht besser bei Änderungen im BSR-Rahmen und in gewohnten Bahnen? Im Bemühen um geräuschlosen Wandel wird der erforderliche umfassende Ansatz in dieser Diskussion oft vermieden. Wie so oft bei grundlegenden Entscheidungen wird zudem der Ruf nach einem Expertengremium laut, das ein Konzept erarbeiten soll. Mit dem in ES&T bereits 2016 vorgeschlagenen institutionellen Modell eines deutschen Nationalen Sicherheitsrates im Bundeskanzleramt, vorbereitet durch eine externe Analyseeinheit im Bundesministerium der Verteidigung, sind solche zusätzlichen Gremien gänzlich entbehrlich.

Durch scheibchenweises Denken und Vorgehen verstreicht jedoch kostbare Zeit. Es geht darum, zügig die funktionalste und krisenfesteste institutionelle Lösung zu finden, die den Ansatz vernetzter Sicherheit handhabbar und Deutschland strategiefähiger macht. Nicht um das Casting nach der Variante des geringsten Widerstandes oder der einfachsten Machbarkeit. Der Blick auf den BSR ist eine wichtige Vorstufe, muss aber unmittelbar in die Schaffung eines Nationalen Sicherheitsrates münden. Ohne Zwischenschritte und ohne neue Expertenrunden. Beide würden bestehende formale wie funktionale Defizite, Schwerfälligkeiten und Doppelungen unnötig fortschreiben. Zielführender wäre es, in einer Testphase die Arbeit mit einem Nationalen Sicherheitsberater und Spiegelreferenten der Ressorts im Bundeskanzleramt sowie dem Nukleus einer Analyseeinheit im Bundesministerium der Verteidigung zu beginnen, die Erkenntnisse bestehender Lagezentren und eines erweiterten Kreises sicherheitsrelevanter Akteure zusammenzuführen und ein so zunächst ein verbessertes Gesamtlagebild zu erstellen. Die zentrale Bündelung von Informationen und Ressourcen würde bisherige Verfahren deutlich verkürzen und verbessern. Kurz gesagt: Die schnelle Einrichtung eines deutschen Nationalen Sicherheitsrates ermöglicht schnelleres und effektiveres Handeln in Akutszenarien.

Der politische Widerstand schwindet – was ein Nationaler Sicherheitsrat besser kann

Bedenken des Koalitionspartners taugen längst nicht mehr als Argument gegen den umfassenden Ansatz der Etablierung eines Nationalen Sicherheitsrates. Die politische Landschaft hat sich grundlegend geändert. Neue Konstellationen sind möglich und der Widerstand schwindet – aus gutem Grund. Denn ein NSR taugt zur Lösung gleich mehrerer Dilemmata. Er ist die Blaupause für mehr sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit und gegen Kompetenzwirrwarr. Teile der Union, der Wehrbeauftragte und die FDP befürworten deshalb inzwischen explizit einen Nationalen Sicherheitsrat, insbesondere vor dem Hintergrund der Corona-Krise. Im Grundsatzprogramm von Bündnis 90/Die Grünen findet sich die Option der Aufwertung des Bundessicherheitsrates. Gleichzeitig gestaltet sich die internationale Sicherheitslage zunehmend dynamisch. Dadurch steigt der Bedarf an zentraler Koordination und flexibler Steuerung sicherheitspolitischer Fragen, an einem präventiv verfügbaren Vorrat an Handlungsempfehlungen sowie für Durchgriffsrechte auf die kommunale und Länderebene, auf Personal und Ressourcen. Die Rechtsgrundlagen hierfür sind im Zweifel zu ergänzen oder zu schaffen.

Was ein Nationaler Sicherheitsrat besser kann, lässt sich für drei Phasen beantworten: Im Vorfeld nationaler und internationaler Krisen dient er der ressortübergreifenden Bündelung aller zivilen und militärischen Informationen sowie der strategischen Vorausschau. Er ist Instrument der Entscheidungsvorbereitung und Entwicklung von Handlungskonzepten. Während des Krisenverlaufs obliegt dem NSR die frühzeitige, regelmäßige und bei Bedarf flexible Zusammenführung relevanter Akteure, sei es auf der politischen oder Analyseebene. In dieser Phase koordiniert er zudem Handlungsstränge und Maßnahmen. Je nach Lage übt der Nationale Sicherheitsrat Entscheidungs- und Durchgriffsrechte bis hin zur regionalen Ebene aus. Wer vorbereitet und durchführt, muss auch nachbereiten. Entsprechend setzt sich die analytische Arbeit des NSR bei der Nachbereitung krisenhafter Entwicklungen fort. In allen drei Phasen, vor allem aber in Akutszenarien, ist der Nationale Sicherheitsrat Andockpunkt für Informationsaustausch, Abstimmung und Koordinierung von Maßnahmen sowie Unterstützungsleistungen auf bi- und multinationaler Ebene. In einer globalisierten Welt sind diese Funktionen im Rahmen internationaler Kooperation von zentraler Bedeutung. Die aktuelle Sicherheitslage mag schwierig sein, die institutionelle Lösung ist es nicht. NSR steht für: Regeln wir Sicherheit neu.

Autor: Christina Moritz ist ist Politologin und Doktorandin der Politikwissenschaft.