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Vor dem Treffen der NATO-Staats- und -Regierungschefs in London zum 70. Jahrestag des Bündnisses gab Generalsekretär Jens Stoltenberg am Freitag (29. November 2019) Einzelheiten über die Steigerungen der Verteidigungsausgaben der Alliierten bekannt. Insgesamt eine Erfolgsgeschichte, denn die Verteidigungsausgaben in Europa und Kanada sind im Jahr 2019 um 4,6% gestiegen. Dies ist das fünfte Wachstumsjahr in Folge. Die am Ende der Pressekonferenz veröffentlichten Statistiken weisen aus, dass sich die Verteidigungsausgaben bis Ende 2024 auf 400 Milliarden US-Dollar kumulieren. Jens Stoltenberg: „Dies ist ein beispielloser Fortschritt, der die NATO stärker macht.“ Der höhere deutsche Beitrag zu den Gemeinschaftskosten der Allianz fand keine Erwähnung.

Der Generalsekretär führte darüber hinaus aus, dass mehr Alliierte die Richtlinie, zwei Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben, erfüllen – neun in diesem Jahr (s. Fußnote). Demgegenüber waren es, wie Jens Stoltenberg erläutert, vor wenigen Jahren nur drei (Anmerkung: die gleiche Aufstellung der NATO Verteidigungsausgaben für das Jahr 2018 wies vier europäische Länder aus: Estland, Griechenland, Lettland, das Vereinigte Königreich). Seiner Einschätzung nach (und diese beruht auf der Analyse der Beiträge zum NATO-Verteidigungsplanungsprozess, womit sich die Mitgliedstaaten zu Leistungen verpflichten) werde die Mehrheit bis 2024 die zwei Prozent erreichen. Jens Stoltenberg: „Die Alliierten investieren Milliarden mehr in neue Fähigkeiten und tragen zu NATO-Einsätzen auf der ganzen Welt bei. Wir sind also auf dem richtigen Weg, können aber nicht selbstgefällig sein. Wir müssen den Schwung halten. “

Vom Londoner Jubiläumsgipfel erwartet der Generalsekretär Entscheidungen zur weiteren Anpassung der NATO, einschließlich weiterer Verbesserungen der Bereitschaft der Streitkräfte. Wie der Generalsekretär später ausführt, befänden sich zurzeit 90 Prozent der Kräfte bereit für die sogenannte Readiness Initiative. Ergo: Erfolge seien vorhanden, doch gälte es auch weiter daran zu arbeiten – zum Wohle der Allianz. Wie von den Verteidigungsministern am 20. November vorbereitet (ESuT berichtete) stehen weiterhin auf der Tagesordnung des Gipfels: Weltraum als fünfter Einsatzbereich der NATO sowie  Aktualisierung des Aktionsplans zur Terrorismusbekämpfung. Die Staats- und Regierungschefs werden eine strategische Diskussion über Russland, die Zukunft der Rüstungskontrolle sowie den Aufstieg Chinas und dessen Behandlung führen.

Der Generalsekretär hob hervor, dass die NATO weiterhin das Fundament für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum ist. Er räumte ein, dass es unter den Mitgliedstaaten  manchmal zu Meinungsverschiedenheiten gekommen sei, sie aber immer in der Lage gewesen seien, ihre Differenzen zu überwinden und sich auf ihre Kernaufgabe zu fokussieren: gegenseitiger Schutz und gemeinsame Verteidigung. Jens Stoltenberg: „Unsere Allianz ist aktiv, agil und passt sich der Zukunft an. Nordamerika und Europa repräsentieren zusammen die Hälfte der wirtschaftlichen und militärischen Macht der Welt. In unsicheren Zeiten brauchen wir starke multinationale Institutionen wie die NATO. Deshalb müssen wir sie jeden Tag weiter stärken, um alle unsere Bürger zu schützen. Und genau das werden wir tun, wenn sich die Führungskräfte in der nächsten Woche treffen.“

Soweit die annotierten Speaking Notes.

Weiterentwicklung – mehr als Haushaltszahlen

Das Auftreten ihres Generalsekretärs reflektiert, dass sich die NATO auf ihrem Gipfel am 4. Dezember eine Demonstration der Einheit wünscht – inmitten der zum Teil offen zu Tage brechendenden Divergenzen unter den 29 Partnern. Anfang November beklagte der französische Präsident Emmanuel Macron offen den Zustand der Allianz als hirntot, bemängelte die fehlende Abstimmung amerikanischen Vorgehens mit den europäischen NATO-Partnern (insbesondere Syrien, in Paris dürfte auch das Nuklearabkommen mit dem Iran besonders gewürdigt werden) und äußerte Bedenken über die türkische Militäroffensive in Nordsyrien. Demgegenüber wiederholt US-Präsident Donald Trump seine Kritik an Mitgliedstaaten des Bündnisses, die selbst nicht genug in ihre Verteidigung investierten und stattdessen auf Kosten der USA beschützen lassen. Zuletzt am 25. November  gegenüber dem bulgarischen Premierminister auf dessen Mitteilung, dass sein Land 3,1 Prozent erreiche: „Das ist sehr gut. Das sollten Sie Deutschland berichten.“ (Quelle: Transkript des Weissen Hauses zur Begegnung)

Die neuen Zahlen zur Entwicklung der Verteidigungshaushalte scheinen ein Weg zu sein, mit dem die Allianz hofft, neuen Streit verhindern zu können, um sich umso konzentrierter auf die anderen Tagesordnungspunkte zu stürzen. Kritisch gesehen könnte das Zahlenspiel dazu dienen, den amerikanischen Präsidenten einzufrieden.

Inwieweit die Konzepte zu einer grundlegenden Debatte um Ziele und Mittel tragen, blieb bei der Pressekonferenz am 29. November offen. Für Beobachter in Brüssel scheint das Fehlen eines strategischen Dialoges zwischen den europäischen Partnern und der USA (oder zwischen der EU und den USA) immer mehr an Bedeutung zu gewinnen. Dies ist nicht nur an der gegenwärtigen Administration festzumachen. Die Europäer übersahen die Notwendigkeit ihrer Standortbestimmung bereits seit der amerikanischen Neuausrichtung gegenüber China als systemischen Gegenspieler (was der NATO nun auch ‚übergestülpt‘ wird). Für die USA hat Europa nicht mehr die Priorität, die es im Kalten Krieg hatte.

Die daraus nötigen Schlüsse zu ziehen, wurde in Brüssel vernachlässigt (in Bordet (dem Sitz der NATO) wie um den Schuman-Platz (Sitz der EU-Institutionen Rat und Kommission)). Zwar wurde in der EU mit dem European Defence Fund eine finanzielle Spritze zur Stärkung militärischer Fähigkeiten gefunden. Und mit Capability Development Process (CDP) und Coordinated Annual Review on Defence (CARD) der Versuch unternommen, ein dem NATO-Verteidigungsplanungsprozess gleichkommendes Regime einzuführen, das die Entwicklung militärischer Fähigkeiten koordiniert und in gewissem Masse verpflichtend macht; durchaus erfolgreich. Doch mit PESCO (die ständige strukturierte Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik), auf die diese Instrumente aufsattelt, limitiert sich die Orientierung nicht auf das volle Spektrum militärischer Operationen – und schon gar nicht auf <nukleare> Abschreckung. Was in ihrer Anlage ja auch insofern akzeptabel war, da hierfür die NATO eintrat. Der EU-Vertrag sieht in Artikel 42 eine Beistandspflicht vor im Falle eines Angriffes auf ein EU-Mitgliedstaat. Und es herrschte seit Einrichtung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (die EU-Gipfel von Köln und Helsinki 1998) das (von Paris nicht geteilte) Einvernehmen, dass aufgrund der NATO-Mitgliedschaft zahlreicher EU-Mitgliedstaaten keine Konkurrenz geschaffen werde. Entsprechend beschränkten sich die Initiativen in der EU im Bereich Verteidigung auf den vereinbarten Rahmen (gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, militärische Beratung, Aufgaben zur Konfliktverhütung und Friedenserhaltung sowie Kampfeinsätze zur Krisenbewältigung und Friedensschaffung (sogenannte Petersberg-Aufgaben)).

Mit dem Paradigmenwechsel der amerikanischen Politik wäre es nun an den europäischen Staaten, die eigenen Fähigkeiten soweit zu stärken, dass sie das ganze Spektrum militärischer Operationen bestreiten können, um den europäischen Pfeiler der NATO zu ertüchtigen. Schließlich könnte so die Glaubwürdigkeitslücke im konventionellen Bereich geschlossen werden. Ein Bestandteil von Abschreckung – also im ureigenen Interesse der Mitgliedstaaten. Am Ende sollte die Betrachtung ihrer nuklearen Komponente nicht ganz unbeachtet bleiben, denn immerhin verfügen zwei europäische Mitgliedstaaten darüber (Frankreich und das Vereinigte Königreich, das ab 2020 nicht mehr EU-Mitglied sein wird).

Insofern geht es um wesentlich mehr als um das Zurverfügungstellen von Haushaltsmitteln. Womit man dem französischen Regierungspräsidenten eingestehen sollte, dass er mit seiner Kritik nicht falsch liegt. In der aus Kenntnis der traditionellen französischen Position entspringenden Unterstellung, den europäischen Hebel zur Spaltung der Allianz nutzen zu wollen, liegt die eigentliche Beanstandung. Es muss darum gehen, dass sich die europäischen Mitgliedstaaten konsolidieren, um als selbstbestimmender Akteur wahrgenommen zu werden – und damit auch den transatlantischen Link wieder belastbarer zu machen. Im Sinne der von der deutschen Verteidigungsministerin eingebrachten Formel ‚A2A‘ – ability to act.  Ohne dabei den Kern der Allianz, also Artikel 5, infrage zu stellen.

Der Gipfel beginnt am 3. Dezember mit einem von Königin Elizabeth II. gegebenen Abendempfang im Buckingham Palace. Die eigentlichen Gespräche finden am 4. Dezember in Watford (ca. 30 km nordwestlich von London) statt.

Hans Uwe Mergener

Fußnote: Neun Mitgliedstaaten mit zwei Prozent und mehr: USA (3,42 Prozent), Bulgarien (3,25 Prozent), Griechenland (2,28 Prozent), das Vereinigte Königreich (2,14 Prozent), Estland (2,14 Prozent), Rumänien (2,04 Prozent), Litauen (2,03 Prozent), Lettland (2,01 Prozent) und Polen (2,0 Prozent).

Sieben Mitgliedstaaten rangieren in der Kategorie zwischen 1,5 und 2 Prozent (Frankreich, Kroatien, Montenegro, Norwegen, Portugal, Slowakei, Türkei).

Drei NATO-Mitgliedstaaten (Belgien, Luxemburg, Spanien) erreichen nicht die Ein-Prozent-Marge.

Deutschland: gem. der Aufstellung der NATO: Verteidigungsausgaben (nach NATO-Schlüssel) in Höhe von 49,712 Milliarden US Dollar entsprechen einem Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 1,38 Prozent.