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Erkenntnisse aus einer kleinen Anfrage von Angehörigen der Bundestagsfraktion der FDP.

Nach Ansicht der Fragesteller haben sich seit dem Beginn der Planung für ein neues Taktisches Luftverteidigungssystem (TLVS), das auf dem abgebrochenen, ursprünglich von den USA, Italien und Deutschland verfolgten Vorhaben Medium Extended Air Defence System (MEADS) beruht, Veränderungen der militärpolitischen Gegebenheiten, der Bedrohung und der technischen Möglichkeiten ergeben, die zu zahlreichen Nachbesserungen an der ursprünglichen Auslegung des TLVS geführt haben. Die Fragesteller beabsichtigten daher mit ihrer kleinen Anfrage, einen aktuellen, ausführlichen Sachstand für das Vorhaben TLVS zu erhalten.

Die Antworten, die das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) den Fragestellern am 02. September 2019 übermittelt hat, zeichnen in ihren nicht eingestuften Teilen jedoch kein vollständiges Bild dieses Sachstands. Steht zu hoffen, dass die Antworten, die vom BMVg als „VS – nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft wurden und von dazu berechtigten Personen im Parlamentssekretariat des Bundestags eingesehen werden können, den Wünschen der Fragesteller näher kommen.

Das BMVg begründet seine Zurückhaltung mit der aktuellen Situation des Vorhabens, in der sich das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) als Vertreter des öffentlichen Auftragsgebers in intensiven Vertragsverhandlungen mit der Bietergemeinschaft TLVS, den Unternehmen MBDA Deutschland GmbH und Lockheed Martin, befindet. Detaillierte Informationen z.B. über den zusätzlichen, über den Ersatz der vorhandenen Patriot-, Mantis- und Leichten Flugabwehrsysteme hinausgehenden Bedarf an bodengebundenen Flugabwehr- und Luftverteidigungssystemen oder den Finanzbedarf für Entwicklung und Beschaffung von TLVS können daher zurzeit nicht offengelegt werden, da dies „die Verhandlungsposition des öffentlichen Auftraggebers signifikant schwächen würde“.

Dennoch geben auch die nicht eingestuften Antworten des BMVg einigen Aufschluss über Aspekte des Vorhabens, die in letzter Zeit auch öffentlich diskutiert wurden.

Auswahlentscheidung

In der Vorbereitung zur Auswahlentscheidung, mit der der Generalinspekteur im Juni 2015 für TLVS diejenige Lösung auswählte, die heute Gegenstand der Vertragsverhandlungen ist, wurden insgesamt fünf Lösungsmöglichkeiten untersucht. Drei davon beruhten auf den Ergebnissen der Entwicklung von MEADS und zwei auf damals bekannten Weiterentwicklungsansätzen für ein „Next Generation Patriot System“.

„Mit der Auswahlentscheidung des Generalinspekteurs der Bundeswehr im Jahr 2015 wurde u. a. aufgrund der sich abzeichnenden Bedrohungslage, der technologischen Zukunftsfähigkeit und der nationalen Systemhoheit entschieden, das Taktische Luftverteidigungssystem auf der Basis der MEADS-Entwicklungsergebnisse zu realisieren und vom PATRIOT-basierten Ansatz Abstand zu nehmen.“

Mit der Auswahl einer auf MEADS basierenden Lösung entschied man sich auch für die Vergabe an einen alleinigen Bieter (Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb). Damit ist es nach Ansicht des BMVg in dem jetzt laufenden Vergabeverfahren aus vergaberechtlichen Gründen nicht mehr möglich, Alternativen (wie die aktuellen Vorstellungen für die Weiterentwicklung von Patriot) zu prüfen, da dies einer unzulässigen Doppelvergabe gleich käme.

Die bisher für TLVS aufgewendeten Haushaltsmittel belaufen sich auf ca. 1,3 Mrd. Euro. Dies umfasst den deutschen Anteil an der Entwicklung von MEADS sowie die ebenfalls zum Vorhaben TLVS gehörige Entwicklung der bodengestützten Variante des Lenkflugkörpers IRIS-T (IRIS-T SL, Surface Launched). Weitere ca. 50 Mio. Euro entfallen auf diverse Studien und externe juristische, fachtechnische sowie kaufmännische Unterstützungsleistungen für die Vorbereitung des Vertragsabschlusses. Wenn das Vorhaben auf dem aktuellen Stand abgebrochen würde, würden keine weiteren Kosten anfallen.

Die Entwicklung und Beschaffung von TLVS ist natürlich mit weiteren Aufwendungen verbunden, deren mutmaßliche Höhe in letzter Zeit wiederholt in den Medien diskutiert wurde. Die Fragesteller zitieren hier ein extremes Beispiel: Eine Schätzung der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, die den Aufwand für einen vollständigen Ersatz der zurzeit vorhandenen Patriot-Systeme mit 10 bis 12 Mrd. Euro beziffert. Das BMVg weist diese Vorstellung zurück räumt aber ein, dass der aktuell geschätzte Finanzbedarf über den im Juni 2015 geschätzten 4 Mrd. Euro liegen dürfte.

Der erhöhte Finanzbedarf wird unter anderem mit der konsequenten Anwendung der Agenda Rüstung begründet. Abweichend vom ursprünglichen Ansatz ist der öffentliche Auftraggeber nunmehr bemüht eine für ihn günstigere Verteilung des technischen und wirtschaftlichen Risikos zu erreichen und ein „funktionierendes Gesamtsystem zum Festpreis“ zu beschaffen. Dies führt offenbar zu höheren Forderungen seitens des Auftragnehmers, bietet aber den Vorteil, dass bereits vor Vertragsschluss Klarheit über den Finanzmittelbedarf für Entwicklung und Beschaffung besteht.

Obwohl der gesamte Bedarf an Flugabwehr- und Luftverteidigungssystemen nicht offengelegt wird, nennt das BMVg den bereits mit der Auswahlentscheidung festgelegten Umfang an TLVS-Komponenten. Demnach plant man die Beschaffung von acht Multifunktionsfeuerleitradaren, drei Weitbereichssensoren, vier Mittelbereichssensoren, 15 Startgeräten für den von Patriot zu übernehmenden Lenkflugkörper PAC-3 MSE und 17 Startgeräten für den zweiten Lenkflugkörper, IRIS-T SL.

Unter der Voraussetzung, dass das Vergabeverfahren wie geplant in naher Zukunft abgeschlossen werden kann, wird der Nutzungsbeginn von TLVS für ca. 2027 erwartet und die Nutzungsdauer soll 30 Jahre betragen. Durch die aktuellen Maßnahmen zur Nutzungsdauerverlängerung und die geplante Beschaffung des PAC-3 MSE Flugkörpers sollte Patriot bis jenseits 2030 nutzbar sein, so dass TLVS im Einklang mit der Ablösung von Patriot eingeführt werden könnte.

Ulrich Renn