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Im Mai und Juni 2019 führte die NATO die Übung „Noble Jump“ für die Schnelle Speerspitze der Allianz in Polen durch. Die Panzerlehrbrigade 9 aus Munster, die in diesem Jahr die Führungsverantwortung in der Speerspitze trägt, wurde dafür nach Polen verlegt.

Schon im Herbst zuvor war bei der Übung „Trident Juncture“ in Norwegen die Speerspitzen-Truppe der Bundeswehr beteiligt. Der Inspekteur der Streitkräftebasis, Generalleutnant Martin Schelleis, hat wesentliche Ergebnisse der Übung aus seiner Sicht im ES&T-Interview dargestellt. Welche Bilanz zieht der Kommandeur der 1. Panzerdivision, Generalmajor Jürgen-Joachim von Sandrart?

Nein, in das allgemeine Wehklagen über zu wenig Material und von daher fehlende Einsatzbereitschaft will Generalmajor von Sandrart nicht einstimmen: „Das können wir auch gar nicht. Die Panzerlehrbrigade 9 ist voll ausgestattet.“ Er räumt ein: „ auf Kosten anderer Verbände.“ Von Sandrart nennt es „das Zusammenführen der Ressourcen“.

Das ist das Credo des Generals: „Wir kennen die Rahmenbedingungen und mit denen müssen wir klarkommen.“ Natürlich wünscht auch er sich eine Vollausstattung seiner unterstellten Verbände, sodass sie aus eigener Kraft ausbilden, einsatzrealistisch üben und Einsatzverpflichtungen realisieren können. Er schaut einen skeptisch an, wenn er die Frage beantworten soll, ob die Speerspitze 2023 wohl aus eigener Kraft diese Vollausstattung auf den Platz bringen könnte. Aber man darf darauf nicht starren wie das Kaninchen auf die Schlange. In der Truppe, die das machen muss, muss man mit dem agieren, was man hat. „Wir müssen mit dem Jetzt einsatzbereit sein und auf das Morgen ausbauen.“

Rahmenbedingungen

Die Rahmenbedingungen waren bei den beiden Übungen in Norwegen im Herbst 2018 und in Polen im Frühsommer 2019 durchaus unterschiedlich. Norwegen hat für „Trident Juncture“ ideale Bedingungen geschaffen: Es wurde ein Übungsgelände bereitgestellt, das 200 mal 100 km umfasste. „So etwas habe ich noch nicht erlebt.“ Die Norweger haben jedes „Goldkörnchen“ bereitgestellt, das man brauchen könnte. Da waren die Übungsbedingungen also perfekt.

In Polen ging das nicht so. Die Truppenübungsplätze, vor allem der in Zagan, waren begrenzt. Dort bewegten sich zu viele Truppen, vor allem auch Amerikaner. Ob das vielleicht politisch gewollt war? Darüber spekuliert ein Truppenführer nicht. Man musste also zusätzlich in die Lausitz ausweichen, um die erwarteten Übungserfolge erzielen zu können. Das aber sind die Gegebenheiten vor Ort, als Kritik will der Kommandeur das nicht verstanden wissen.

Ihm geht es in seiner Bewertung nicht darum, dass innerhalb der Allianz noch einiges verbessert werden muss, zum Beispiel bei der Kommunikation. Das sind Dinge, die lassen sich regeln, manches schneller, manches dauert etwas länger. Da braucht die Bundeswehr ihr Licht nicht unter den Scheffel zu stellen: Auch die Verbündeten haben noch Defizite, die oft ähnlich gelagert sind wie bei uns. In manchen Ländern ist das sogar noch problematischer. Da wird der Soldat zum Diplomat: Welche Länder das sind, sagt er nicht.

Das gilt auch für die personelle Ausstattung. Die Bundeswehr sei personell im Vergleich nicht nur zahlenmäßig gut aufgestellt, die Bundeswehrsoldaten seien auch in der Regel besser ausgebildet. Das sieht man in den gemeinsamen Einsätzen und Übungen.

Integrationsmodelle

In der NATO bilden sich langsam Staatengruppen heraus, bei denen die Zusammenarbeit besonders gut klappt. Es sind immer wieder Staaten, die eine ähnliche Mentalität, eine ähnliche militärische Ausbildung, eine ähnliche Auffassung von der Rolle des Militärischen haben. Sie verbindet ein sehr verwandtes Verständnis von Auftrag, Ausbildung und Übung – „eben von soldatischer Profession“. Das klappt besonders gut zwischen Deutschland, den Niederlanden und Norwegen. Da entstehen keine Allianzen in der Allianz, aber sehr enge Kooperationen mehrerer Staaten, die tragfähig sind und als wirkungsvolles Integrationsmodell innerhalb des europäischen Pfeilers der Allianz dienen können.

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Das hat auch Auswirkungen auf die Interoperabilität. „Das Rückgrat auch für die Interoperabilität ist der Mindset“, sagt der Generalmajor. Er lässt sich nicht auf konkrete Rüstungsprojekte ein, aber er weist doch darauf hin, dass es zwischen diesen drei Staaten schon eine Menge Kooperationen auch auf diesem Gebiet gibt.

Soldaten des 2. Kompanie des Panzerlehrbataillons 93 mit ihrem Kampfpanzer auf dem Übungsplatz Munster (Foto: Bundeswehr)

Der Sockel muss breiter werden

Übungen wie die beiden oben genannten sind für die Bundeswehr immens wichtig. „Wir sind doch auf solche Szenarien gar nicht mehr vorbereitet“, sagt von Sandrart. Die Ausbildung für Aufgaben der Landes- und Bündnisverteidigung hat zu Zeiten, da es nur um Auslandseinsätze geht, eine deutlich nachgeordnete bis keine Rolle gespielt. „Wer beherrscht denn noch den Kampf der verbundenen Waffen oberhalb der Kompanieebene?“, fragt er. Der Auftrag zur Auf- und Bereitstellung der Speerspitze der NATO hat diesen Zuwachs an Ausbildung für die 1. Panzerdivision und sicherlich auch darüber hinaus für das Deutsche Heer und die Bundeswehr in Gänze deutlich beschleunigt.

Ist es da sinnvoll, bei jedem Mal, wenn Deutschland die Führungsverantwortung in der NATO-Eingreiftruppe übernimmt, die Brigade zu wechseln – auch mit den vielleicht immer noch nötigen Folgen für das Material? Generalmajor von Sandrat antwortet mit einem klaren Ja: „Der Sockel dieser Fähigkeiten muss breiter werden.“ Die Führungskräfte aus der VJTF-Brigade müssen in andere Verbände gezielt versetzt werden, damit sie dort ihre Kenntnisse und Erfahrungen weitergeben. Das gilt nicht nur für die Häuptlinge, sondern auch für die Truppenführer auf der mittleren und unteren Ebene. Das Heer geht mit gutem Beispiel voran: Der Kommandeur der „9er“, der Panzerlehrbrigade 9, Brigadegeneral Ullrich Spannuth, übernahm im August das Ausbildungszentrum der Bundeswehr in Munster. Und dass das auch mit den anderen Führungskräften umgesetzt wird, ist feste Absicht des Divisionskommandeurs.

Vollausstattung?

Irgendwann fragt ein Journalist dann doch: Was passt denn nicht? Auch da klare Sprache: „Naja, wir haben keine Vollausstattung, wir haben ein Ersatzteilfehl und wir haben zu wenig geeignete Führungsmittel.“ Also kommen die Trendwenden in der Truppe nicht an. „Doch“: Die Ersatzteillage verbessert sich, ohne bisher gut zu sein. Das sei aber spürbar. Man brauche zunächst einmal nicht neues Großgerät, sondern müsse das alte flottmachen oder halten. Von Sandrart setzt auf die Agenda Ausrüstung im „Kleinen“ und die Agenda Nutzung. „Wir brauchen Stiefel, Nachtsichtgeräte, eine vernünftige persönliche Ausrüstung für die Soldaten“, sagt er und fügt wie ein Mantra an: „und Ersatzteile!“ Ersatzteile sind für ihn heute wichtiger als neues Gerät. Da muss einiges geschehen, auch über den erwarteten kurzfristigen Bedarf hinaus. Die Bundeswehr braucht z.B. wieder eine belastbare Depotorganisation. Denn, so der General: „Wenn es dumm läuft, müssen wir übermorgen los.“ Uns helfen nicht nur die Pläne, was die Bundeswehr 2027 oder 2031 haben soll. Da muss man jetzt einsatzbereit sein und verweist damit auf Relevanz des „Jetzt“ und die Dimension des „Morgen“.

Übrigens gilt das auch für die neuen Formen der Kriegführung. Es gab sowohl bei „Trident Juncture“ als auch bei „Noble Jump“ immer wieder Versuche, mit Methoden der Cyber-Kriegführung das Übungsgeschehen zu beeinflussen. Die andere Seite hat die Übung genutzt, um die eigenen hybriden Fähigkeiten zu schulen. Da wurden, um nur ein Beispiel zu nennen, Facebook-Profile erfunden und dann eingespielt. Das konnte jetzt schnell identifiziert werden. Die Truppe muss für solche Eingriffe sensibilisiert werden. Da muss man schnell und offen informieren, damit solches nicht verfängt. Auch das konnte geübt werden.

Für die Planung dieser Operationen ist es wichtig, dass man recht genau weiß, was der Gegner kann. Daraus muss man entwickeln, was man dagegen machen kann. Das muss sehr sorgfältig geschehen. „Denn der Grat zwischen Abschreckung und Provokation ist schmal.“

Bilanz

Es ist also eine ganz andere Bilanz als die, die man erwartet, die Generalmajor von Sandrart zieht. Er ist der Truppenführer, der mit dem agieren muss, was ihm zur Verfügung steht. Er muss die ihm anvertrauten Soldatinnen und Soldaten motivieren. „Ich hasse diese Negativmacherei“, sagt er offen, „die Truppe braucht eine Perspektive. Es mangelt nicht am Geld, es mangelt an der Zeit und dem Material. Wir haben hier gezeigt, wie wir Soldaten motivieren, und dass die Bundeswehr attraktiv ist, weil sie anders ist. Wir haben mit der Speerspitze eine „Insel des soldatischen Wohlfühlens“ geschaffen. Der Soldat muss in die Lage versetzt werden, professionell das tun zu können, was man von ihm erwartet, auf dem Niveau einer führenden Industrienation; das ist bei der Speerspitze gelungen; dies ist ein Gesamterfolg der Bundeswehr.“ Liest man das, sieht es aus wie ein Werbeblock. Hört man Generalmajor von Sandrart das sagen, spürt man, dass es ihm in erster Linie darum geht, „seine“ Soldaten zu motivieren und anzuleiten. Und dass er nach „Noble Jump“ den Eindruck hat, das sei gelungen.

Autor: Rolf Clement