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Der zweite Tag des EU-Gipfeltreffens beginnt mit zwei Ernüchterungen. War man auf die der nicht getroffenen Personalbesetzung vorbereitet, so wiegt die Nichteinigung zum Klimaziel für 2050 schwerer. Dass man das zugegebenerweise ehrgeizige Klimaziel zu einer Fußnote deklariert, ist nicht nur für die Umweltverbände unverständlich – auch für die Mehrheit in der Runde. Dass man sich darüber hinaus auch nicht auf einen Haushalt einigen konnte, ist eine zusätzliche Enttäuschung.

Keine Mehrheit für keinen

In der Besetzungsfrage fruchteten die bis zu Gipfelbeginn geführten bi-, tri-, n-lateralen Sondierungen sowie die von Ratspräsident Donald Tusk breit angelegten und intensiven Konsultationen nichts. Im Communiqué zum Abschluß des ersten Gipfeltageslässt er dies wie folgt formulieren: „Der Europäische Rat hatte eine umfassende Erörterung der Nominierungen unter Berücksichtigung meiner Konsultationen und Erklärungen im Europäischen Parlament. Es gab keine Mehrheit für einen Kandidaten.“ Was bedeutet keine Mehrheit, zumindest nicht für einen der drei offiziellen Kandidaten für das Amt des EU-Kommissionspräsidentenweder für Manfred Weber von der Europäischen Volkspartei (EVP), den Sozialdemokraten Frans Timmermans noch für die liberale Margrethe Vestager. Umfassend heißt in diesem Falle, die vom Rats- und Kommissionspräsidenten gemeinsame gegebene Pressekonferenz begann am Morgen des 21. Juni kurz nach zwei Uhr. Die Staats- und Regierungschefs debattierten mehr als vier Stunden über die Verteilung der künftigen EU-Spitzenposten.

Nun hat man sich auf einen Sondergipfel am 30. Juni in Brüssel verständigt. Um doch noch vor der konstituierenden Sitzung des neuen EU-Parlaments (am 2. Juli) ein personelles Gesamtpaket zu schnüren. Dies scheint angesichts der zutage gewordenen Differenzen über das Konzept eines Spitzenkandidaten durchaus ambitioniert und es ist schwer abzusehen, wohin das Pendel schlägt. Einige wollen das Spitzenkandidatenprinzip umsetzen, wonach nur Spitzenkandidaten bei der EU-Wahl das Amt an der EU-Kommissionsspitze übernehmen können, andere wollen es nicht. Bislang besteht das EU-Parlament noch darauf – bisher jedenfalls. War es doch auch die Entscheidungsgrundlage der Bürger bei der letzten Wahl. Parlamentspräsident Antonio Tajani hatte das zu Anfang des Gipfels noch einmal betont. Demgegenüber argumentieren die Gegner des Prinzips (z.B. Paris) damit, dass sich die Spitzenkandidaten nicht europaweit, sondern nur in ihren betreffenden Ländern profiliert hätten.

Bei der Kür des Kommissionspräsidenten gilt: Der Rat der Staats- und Regierungschefs hat das Nominierungsrecht, gewählt wird er vom Parlament. In beiden Gremien sind also Mehrheiten nötig. Im nun anstehenden Personaltableau geht es nicht nur um die Nachfolge Jean-Claude Junckers als Kommissionspräsident, sondern, je nach Lesart, um drei oder vier weitere Spitzenposten: die Präsidenten des Europäischen Rats und des Europaparlaments, den Posten des EU-Außenbeauftragten sowie des Chefs der Europäischen Zentralbank (EZB) – wobei sich bei letzterem die Geister scheiden, da nicht er nicht von allen als politisches Amt empfunden wird (z.B. Frankreich). Geschnürt werden soll ein ausgewogenes Personalpaket mit Männern und Frauen, verschiedenen Parteien und europäischen Regionen.

Schwer vorherzusehen, wohin das Pendel schlagen wird. Schon, weil die Meinungen auseinandergehen, ob die bisherigen Kandidaten wieder Berücksichtigung finden oder bereits ‚tot‘ sind. Und ebenso schwer fällt die Einschätzung, ob dieser Zwist nicht doch zu einer Krise der Institutionen hinausläuft. Der, so die Bundeskanzlerin in ihrer Abschlusspressekonferenz, in niemandes Interesse sei.

EU-Ratspräsident Donald Tusk setzt jedenfalls alles dran, die Zeit zu nutzen. Am kommenden Montag weist sein Kalender Gespräche mit Philippe Lamberts (Greens/EFA), Iratxe García Pérez (S&D), Manfred Weber (EVP) sowie mit Dacian Cioloș and Guy Verhofstadt (Renew Europe) aus. So wird es für ihn und andere weiter gehen – der G20-Gipfel in Osaka bietet für einige Staats- und Regierungschefs eine Gelegenheit zur weiteren Vertiefung (neben dem Ratspräsidenten Donald Tusk und dem Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker reisen die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, der französische Staatschef Emmanuel Macron, Ministerpräsident Mark Rutte (Niederlande) sowie der Spanier Pedro Sánchez nach Japan.

EU – 2050 klimaneutral

In der Klimadebatte hatte Frankreich eine Festlegung auf 2050 für die EU vorgeschlagen, Merkel unterstützte dies ausdrücklich. Estland, Polen, Tschechien und Ungarn verschlossen sich dem verbindlichen Zieldatum. Es wurde letztlich gestrichen und in einer Fußnote verankert. In seiner Abschluß-Pressekonferenz wertete es der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, auf dessen Vorschlag die Festlegung für eine „klimaneutrale EU“ in 2050 zurückgeht, als eine positive Entwicklung – aus zwei (nämlich Frankreich und Deutschland) wurden beim Treffen der Staats- und Regierungschefs in Sibiu im Mai acht und nun 24 Mitgliedsstaaten, die sich dem Ziel verpflichteten. In den vom Ratssekretariat herausgegebenen Schlussfolgerungen (wenn man so will, das Gipfelprotokoll) heißt es, der Rat strebe bis zum Jahresende eine Lösung an.

Womöglich bedeutet dies finanzielle Kompensation für diejenigen, denen ein Ausstieg aus Kohle oder Ölschiefer als Energiequelle nicht leicht fällt. Im Hinblick auf den UN-Gipfel im September ist die getroffene Formel für die Bundeskanzlerin eine „sehr gute Ausgangsposition bei aller Unterschiedlichkeit, um eine herausragende Position für die Europäische Union darstellen zu können und damit auch Vorreiter für den internationalen Klimaschutz sein zu können“.

Haushalt

Während bei der Reform der Eurozone Fortschritte am heutigen zweiten Gipfeltag erzielt wurden (man verständigte sich auf einen eigenen Haushalt für das Gebiet der europäischen Währungunion), haben die Staats- und Regierungschefs ihr ursprüngliches Ziel, im Oktober eine Einigung zum mittelfristigen Finanzplan für die Jahre 2021 bis Ende 2027 herbeizuführen, aufgegeben. Der Rat beauftragte die finnische Präsidentschaft die Fortsetzung der unter Rumänien geleisteten Arbeit und möchte im Oktober einen Gedankenaustausch mit dem Ziel führen, vor Jahresende zu einer Einigung zu gelangen.

Strategische Agenda 2019 – 2024

Als Reaktion auf eine unbeständige, komplexe und schnelllebige Welt wird die EU sich verändern. Der Rat unterstrich seine Entschlossenheit, auf den Werten und Stärken des europäischen Modells aufbauend, die Zukunft gestalten zu wollen und die Interessen der Bürgerinnen und Bürger, der Unternehmen und Gesellschaften zu fördern sowie den Lebensstil zu bewahren. Die Agenda bietet einen Gesamtrahmen und Orientierungshilfen für das Vorgehen der EU als Richtschnur für die Arbeit der Institutionen und der Mitgliedsstaaten in den kommenden fünf Jahren. Dabei stehen vier Prioritäten im Mittelpunkt:

  • Schutz der Bürgerinnen und Bürger und der Freiheiten
  • Entwicklung einer soliden und dynamischen wirtschaftlichen Basis
  • Verwirklichung eines klimaneutralen, grünen, fairen und sozialen Europas
  • Förderung der Interessen und Werte Europas in der Welt.

Darunter finden sich mehr oder weniger vage Aussagen zu Migration, zu zukunftsfähiger Industriepolitik, zur Außenpolitik und zur Verteidigung der Werte. Unter letzterem die Forderung, dass die Außen- und Verteidigungspolitik reaktionsschneller und aktiver gestaltet werden soll, auch müsse man eine größere Verantwortung für die eigene Sicherheit und Verteidigung übernehmen. Was im Umkehrschluss das Eingeständnis eigener Defizite bedeutet. Die Kooperation mit der NATO ist festgehalten.

Die Agenda wurde verabschiedet. Der in ihr enthaltene Punkt Klimaneutralität bot den Ansatzpunkt zu einemvertieften Austausch mit dem o.a. Ergebnis.

Andere Tagesordnungspunkte waren wenig kontrovers.

Bezüglich Brexit das deutliche Signal an London, dass eine Neuaufnahme der Austrittsverhandlungen nicht zur Diskussion stehe, ein ungeordneter Brexit zu vermeiden sei und man eine möglichst enge künftige Beziehung zu Großbritannien aufbauen möchte.

Russland. Die als Reaktion auf die rechtswidrige Annexion der Krim und Sewastopols verhängten restriktiven Maßnahmen wurden um zwölf Monate verlängert.

Zypern. Unter Verweis auf frühere Beratungen wurde die Verurteilung des rechtswidrigen Vorgehens der Türkei im östlichen Mittelmeer und in der Ägäis erneuert. Die Kommission und der Europäische Auswärtige Dienst wurden aufgefordert, unverzüglich Optionen für geeignete Maßnahmen, einschließlich gezielter Maßnahmen, vorzulegen.

Dies kann als Verschärfung der Gangart gewertet werden, mag es die Voraussetzung für eventuelle Sanktionierungen schaffen.

Iran. Die aktuellen Entwicklungen wurden kommentiert – die Ernsthaftigkeit der Lage steht außer Frage.

Am Rande des ersten Gipfeltages wurde bekannt, dass am 28. Juni 2019 in Wien eine Sitzung der Gemeinsamen Kommission des Gemeinsamen Gesamtaktionsplans (JCPOA) stattfindet. Die Gemeinsame Kommission wird in Vertretung der Hohen Vertreterin der EU, Federica Mogherini, von der Generalsekretärin des Europäischen Auswärtigen Dienstes, Helga Schmid, geleitet. Teilnehmer: China, Frankreich, Deutschland, Russland, Großbritannien (die sog. E3+2) und Iran. Ziel des Treffens ist, die Situation zu erörtern (Rückzug der USA, Sanktionen durch die USA sowie Irans Ankündigungen in Bezug auf die Umsetzung seiner nuklearen Verpflichtungen) und die weitere Umsetzung des JCPOA sicherzustellen.

Nun mag man der EU zum Abschluss der zwei Gipfeltage Entscheidungsunfähigkeit, Uneinigkeit oder gar Trostlosigkeit vorwerfen, um einige Schlagworte aus der Medienschau aufzugreifen. Derartiger Vorwurf ist einfach. Demokratie ist komplex. In dieser Vielfalt gilt es zusammen zu finden. Im Ausgleich liegt der Weg zu gemeinsamer Zukunft und zur Weiterentwicklung. Dass die EU „einheitlicher“ sein muss, kann nur in dem Masse verwirklicht werden, wie es durch die Mitgliedsstaaten erlaubt wird. Das gilt auch für die Rolle der EU als weltpolitischer Akteur.

Mag sein, dass es hier und da Nachjustierungen an den Verfahren bis hin zur Aufgabe überholter Prinzipien bedarf.

Hans Uwe Mergener