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Anforderungen an die europäische Verteidigung nehmen vor dem Hintergrund der aktuellen Sicherheitslage stetig zu. Allerdings fallen europäische Nationen – und auch Deutschland – im globalen Vergleich ihrer militärischen Stärke zurück. Ein zentraler Grund hierfür ist die hohe Fragmentierung der europäischen Rüstungslandschaft. Europäische Nationen sind zu klein, um komplexe Rüstungsprogramme effizient eigenständig umzusetzen.

Neben hohen Kosten und unzureichenden Skaleneffekten liegt dies häufig auch an mangelnden Fähigkeiten und Kapazitäten nationaler Industrien. Zusammenarbeit in multinationalen Programmen bietet die Möglichkeit, Größennachteile im europäischen Kontext auszugleichen. Neben positiven Aspekten sind solche Programme allerdings häufig mit Problemen behaftet, die Synergien und andere Vorteile stark einschränken.

Geopolitische Trends und Entwicklungen der militärischen Stärke

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Skalierter Global Power Index (Grafiken: Strategy&)

Die Annexion der Krim im Jahr 2014 und der Einsatz hybrider Kriegführung im Osten der Ukraine haben die europäische Sicherheitslage verändert; verstärkte militärische Präsenz an der Ostgrenze des Bündnisses und bessere Reaktionsfähigkeit rücken erneut in den Fokus. Die Aufkündigung des INF-Vertrages und die Diskussion um eine europäische Armee zeigen, dass das tradierte Sicherheitsverständnis überdacht wird. Eine ausgewogenere Lastenverteilung zwischen den USA und den europäischen Mitgliedstaaten hat dabei die Diskussion der letzten Jahre beherrscht. Bis heute und auch in absehbarer Zukunft liegt der Großteil der europäischen Mitgliedstaaten jedoch weit hinter dem Zwei-Prozent-Ziel und der Erreichung der Fähigkeitsziele der NATO zurück. Initiativen Europas, Kommandostrukturen zu verbessern und die eigene Mobilität und Leistungsfähigkeit zu steigern, haben erst begonnen. Abschreckung und Verteidigung des Bündnisterritoriums stehen dabei dem Willen gegenüber, zu Stabilität auch außerhalb desselben beizutragen. Die Herausforderungen zeichnen sich durch ein hohes Maß an Komplexität aus, wie beispielsweise der Kampf gegen den IS oder der Syrienkonflikt zeigen. Der Eingriff in Krisen erfolgt vornehmlich in Koalitionen der Willigen; Pooling- und Sharing-Konzepte der NATO stoßen hierzu angesichts notwendiger Reaktionsfähigkeitsanforderungen zunehmend an Grenzen. Wenig überraschend deuten Prognosen auf eine Steigerung der Rüstungsausgaben in den nächsten Jahren auch auf globaler Ebene hin.

Europäische Länder wie Frankreich, Großbritannien und Deutschland drohen jedoch hinsichtlich ihrer relativen militärischen Stärke gegenüber den Militärgroßmächten USA, Russland und China weiter zurückzufallen.

Dies zeigt auch der Verlauf des Global Power Index (GPI) über die letzten Jahre, welcher die militärische Stärke einzelner Länder durch die Analyse entlang von 55 Kriterien in den Bereichen Leistungsfähigkeit von Heer, Luftwaffe und Marine, Finanzen, Ressourcen und Geografie vergleicht:

Russland und besonders China konnten den relativen Abstand zum Primus USA verkürzen, die großen europäischen Nationen – und allen voran Deutschland – scheinen den Anschluss zu verlieren.

Einen zentralen Grund für diese Entwicklung stellt die hohe Fragmentierung der europäischen Rüstungslandschaft dar. Die einzelnen Nationen setzen in großem Maße unterschiedliche Waffensysteme ein, was dazu führt, dass Synergiepotenziale auf europäischer Ebene ungenutzt bleiben. Europäische Nationen sind darüber hinaus zu klein, um eigenständig große Rüstungsprogramme umsetzen zu können.

Multinationale Programme – Vorteile und Erfahrungswerte

Zusammenarbeit in multinationalen Programmen bietet die Möglichkeit, solche Größennachteile im europäischen Kontext auszugleichen und außerdem eine weitere Konvergenz großer Waffensysteme in Europa voranzutreiben. Insbesondere ergeben sich Vorteile in den Bereichen:

  • Budget: Finanzierungsmöglichkeit auch sehr großer Programme im internationalen Kontext,
  • technologische Fähigkeiten: Herausragende technologische Fähigkeiten durch Nutzung aller teilnehmenden Industrien, um global kompetitive Produkte zu entwickeln,
  • Skaleneffekte: Skaleneffekte (Kostendegression und Lerneffekte) durch höhere Abnahmemengen.

Die beschriebenen Vorteile konnten in vergangenen Programmen jedoch oft nicht realisiert werden: Zeit- und Kostenpläne wurden oft signifikant überschritten. Beispielsweise verzögerte sich die erste Auslieferung des Transporthubschraubers NH90 (Kooperation zwischen Deutschland, den Niederlanden, Italien und Frankreich) um neun Jahre und die tatsächlichen Programmkosten für den deutsch-französischen Kampfhubschrauber Tiger waren für Deutschland über 20 Prozent höher als geplant.

Hebel für effektivere und effizientere Zusammenarbeit in multinationalen Programmen

Die Gründe für Zeitverzug und Kostenanstieg multinationaler Programme sind vielfältig. Auf oberster Ebene dominieren bei multinationalen Rüstungsprogrammen Herausforderungen hinsichtlich der Entscheidungsfindung und Konfliktlösung, der Ausgestaltung der Industriestruktur sowie des Programmmanagements.

Verspätung und Kostensteigerung multinationaler Programme

Um die Rolle europäischer Nationen in der globalen Verteidigungslandschaft abzusichern, sollten Programme in Zukunft unter Einbezug gewonnener Erkenntnisse in diesen Bereichen effektiver und effizienter gestaltet werden. Aus unserer umfassenden Erfahrung in multinationalen Rüstungsprogrammen inklusive Eurofighter Typhoon, A400M Atlas, METEOR, F-35 Lightning und der Analyse weiterer Industrie Best Practices lassen sich klare Empfehlungen ableiten, die in Rüstungsprogrammen bislang allerdings nicht vollumfänglich umgesetzt sind.

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Abkehr vom reinen Konsensprinzip

Die Komplexität von Abstimmungen und Entscheidungsfindung erhöht sich exponentiell, je mehr Nationen an einem Programm beteiligt sind. Angewendete Konsensprinzipien führen häufig zu Veto-/Patt-Situationen, falls individuelle Forderungen nicht durchgesetzt werden können. Weiterhin können in diesem Kontext unterschiedlich hohe Budgetbeiträge bei gleichen Stimmrechten in Spannungen und Friktionen resultieren.

Um effektiv Entscheidungen treffen zu können, muss das Konsensprinzip abgeschwächt werden. Entweder nimmt eine Nation eine Führungsrolle ein, um in Konfliktsituationen eine finale Entscheidung für das Programm zu treffen (Lead Nation/Tie Breaker), oder es werden Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip getroffen (Majority Vote). Für die zweite Variante ist auch eine Abstufung der Stimmrechte nach Höhe der finanziellen Beteiligung je Nation möglich (z.B. Gold-, Silber-, Bronze-Mitgliedschaften, analog F-35).

Ausschöpfung von Industriefähigkeiten

Oft werden nationale Beiträge an primär industriepolitische Interessen und Erwartungen, z.B. hinsichtlich der Verteilung von Arbeit und Know-how, geknüpft, beispielsweise nach dem Juste Retour-Prinzip (angemessener Mittelrückfluss aus dem Programm). Dies führt in aller Regel zu der Zerstückelung von Design-Verantwortung, „künstlicher“ Inflation von Arbeit bzw. suboptimaler Verteilung von Arbeit am Kompetenzprinzip vorbei. In der Folge treten erhebliche Ineffizienzen und gesteigerte technische Komplexität auf. Außerdem werden durch diese Praxis Wettbewerb zwischen Industrieunternehmen und damit Effizienz- und Innovationsdruck reduziert.

Hinsichtlich der Gestaltung der Industrie-
struktur zeichnen sich erfolgreiche Programme insbesondere durch zwei Aspekte aus:

Zum einen eine führende, möglichst zentrale Designautorität, welche die Entwicklung der einzelnen Systeme überwacht, koordiniert und die gesamtheitliche Entwicklungs- und Lieferverantwortung trägt. Die Übernahme dieser Verantwortung muss mit einer entsprechenden Ausstattung an Steuerungs- und Incentivierungs-Instrumenten einhergehen, insbesondere was die Transparenz und Budgetsteuerung entlang der Wertschöpfungskette betrifft.

Zum zweiten muss die Gestaltung der Wertschöpfungskette und Auswahl der Zulieferer primär nach technischen und ökonomischen Kriterien erfolgen. Im Einzelfall können natürlich auch industriepolitische Vorgaben berücksichtigt werden, Startpunkt der Betrachtung muss aber immer eine fähigkeitsorientierte Auswahl sein.

Starkes Programmmanagement

Zentrale Managementorganisationen, die Nationen und/oder Industrie vertreten, haben oftmals eine zu geringe Autorität und Durchgriffskraft, was z.B. die Schaffung von Transparenz und eine effektive Steuerung im Sinne des Gesamtprogramms verhindert. Ein weiterer Aspekt, welcher die Leistungsfähigkeit von Programmen häufig stark beeinträchtigt, ist die Gestaltung von Industrieverträgen. Diese schwanken von maximaler Pönalisierung/Risikokonzentration (z.B. Fixed Price) zu komplett fehlender Leistungsincentivierung (z.B. Cost Plus). Die richtige Balance zu finden, gestaltet sich dabei häufig schwierig: Auf der einen Seite muss das richtige Maß von Innovationsförderung und Sicherheit für die Industrie gefunden werden. Andererseits müssen Leistungsanreize geschaffen und das Risiko zwischen den Vertragspartnern fair verteilt werden.

Illustratives Beispiel Campus-Konzept

Starke zentrale Managementorganisationen können einen großen Beitrag zur Effektivität und Effizienz von multinationalen Programmen leisten. Eine zentrale Aufgabe besteht in der Definition klarer und verbindlicher Programmregeln und gleichzeitiger Überwachung, dass diese Regeln auch eingehalten werden. Weiterhin kann das Einnehmen einer Mediatorenrolle zwischen allen Programmteilen, insbesondere jedoch zwischen Nationen und Industrie, im Konfliktfall schnelle und pragmatische Lösungen fördern. Die Übernahme von (operativen) Entscheidungsbefugnissen (z.B. hinsichtlich Low-cost Changes) kann zudem die nationalen Programmbüros sowie Industriebüros entlasten. Abgerundet wird ein starkes Programmmanagement durch eine ausgeprägte Expertise hinsichtlich Gestaltung und Management von Industrieverträgen. Dadurch kann über den Programmlebenszyklus hinweg eine angemessene Verteilung von Risiken zwischen Nationen und Industrie sichergestellt, ein angemessenes Anreizsystem geschaffen und letztendlich das gemeinsame Ziehen an einem Strang aller Beteiligten überhaupt erst ermöglicht werden.

Der Campus als Organisationsmodell

Das Campus-Konzept stellt eine vielversprechende Möglichkeit dar, die Umsetzung der oben beschriebenen Hebel durch ein Organisationsmodell zu befördern. Die räumliche Nähe aller relevanten Programmmitglieder kann Entscheidungsfindung und Konfliktlösung weiter vereinfachen und beschleunigen. So kann beispielsweise ein ständiger Austausch der systemverantwortlichen Industrieunternehmen stattfinden, um die Komplementarität aller Entwicklungen zu gewährleisten. Weiterhin können die Entwicklungen in sogenannten Agilen Projektteams schneller vorangetrieben werden. Dazu werden innerhalb des Campus je nach Bedarf neue Projektteams mit den für das jeweilige Thema relevanten Experten aus Nationen, Industrie und Programmmanagement zusammengestellt. Mitglieder der Projektteams tragen gemeinschaftlich die Verantwortung, spezifische Ergebnisse zu erarbeiten und innerhalb der Organisationen abzustimmen. So werden z.B. neue Entwicklungsanforderungen gemeinschaftlich von Nationen und Industrie unter der Leitung der zentralen Managementorganisation definiert und maturiert. Selbstverständlich müssen in allen Arbeitsschritten, insbesondere bei der Zusammenarbeit zwischen Nationen und Industrie, die vergaberechtlichen Anforderungen berücksichtigt und eingehalten werden.

In Anbetracht der beschriebenen Herausforderungen gilt es, ein weiteres Zurückfallen europäischer Länder im Bereich Verteidigung zu verhindern. Eine Gestaltung multinationaler Programme entlang der beschriebenen Empfehlungen kann einen wichtigen Beitrag zu höherer Effektivität und Effizienz der Programme selbst und der europäischen Verteidigung insgesamt liefern.

Autoren: Dr. Germar Schröder,  Dr. Jan Wille, Albert Zimmermann, Claudio von Heereman und Zeno Lobe sind Geschäftsführer und leitende Mitarbeiter der Unternehmensberatung Strategy&, der Strategieberatung im Netzwerk von PricewaterhouseCoopers (PwC).