Die Deutsche Marine modernisiert ihre Nahbereichsverteidigung grundlegend: Eine neue Waffenplattform im Kaliber 30×173 mm soll insbesondere gegen Drohnen und asymmetrische Bedrohungen wirksamen Schutz bieten.
Auf der e-Vergabe-Plattform wurde dieser Tage die Ausschreibung für Maschinenkanonen des Kalibers 30x173mm als die „Querschnittliche Nachfolgelösung Marineleichtgeschütz (qNFMLG)“ veröffentlicht. Die Ausschreibung läuft bis zum 21. Juli 2025. Über eine Rahmenvereinbarung sollen insgesamt bis zu 175 Waffensysteme nebst Zubehör (z.B. Sonderwerkzeugsätze, Ersatzteilpakete) sowie Ausbildungsleistungen beauftragt werden. Als Laufzeitbeginn ist der 19. Oktober 2026, als -ende der 31. August 2041 angegeben.
Nach dem veröffentlichten Text soll das zukünftige Marineleichtgeschütz auf Überwassereinheiten der Marine integrierbar sein, Luftziele (insbesondere UAVs), Überwasserziele und Ziele an Land bekämpfen können, sowie Airburst-Munition verschießen und programmieren können. Zudem muss das System einen elektro-optischen Sensor (mit Laserentfernungsmesser, Nachtsicht- und Tageslichtkamera) besitzen und marktverfügbar sein. Außerdem soll der Nachweis erfolgreichen Einsatzes auf Kriegsschiffen erbracht werden, ausdrücklich als sogenannter TRL 9-Standard in der Ausschreibung angesprochen. Es ist die höchste Stufe auf einer Skala, die ursprünglich von der NASA entwickelt und später von Organisationen wie der Europäischen Kommission für Forschungs- und Innovationsprojekte übernommen wurde. Es bedeutet, dass sich das System unter realen Einsatzbedingungen bewährt hat, vollständig entwickelt und validiert ist und sowohl funktionsfähig als auch zuverlässig ist – alle Tests und Integrationen sind abgeschlossen, und die Technologie erfüllt die erforderlichen Standards.
Grund für diese Anforderungskriterien ist wohl primär die Abwehr asymmetrischer Bedrohungen, insbesondere unbemannter Luftfahrzeuge (UAVs), wofür Airburst-Munition entscheidend ist. Das aktuelle MLG 27, auf Fregatten (F124, F125), Korvetten und Versorgern im Einsatz, ist dafür weniger geeignet.
Um die Fähigkeitslücke der Marine zu schließen, werden 75 Waffensysteme fest beauftragt. Darüber hinaus heißt es im Ausschreibungstext weiter: „Zur Fähigkeitserhaltung bei kurzfristigem Ausfall eines oder mehrerer der -bis dahin- zu beschaffenden Waffensysteme sowie zur Ausrüstung neuer, noch zu beschaffender Schiffe und Boote (z. B. Fregatten Klasse 127, MUSE, Flottendienstboot Klasse 424) soll darüber hinaus die Möglichkeit des Abrufes von bis zu 100 weiteren Systemen gegeben sein.“
Für die Fregatte F126 soll Rheinmetall eine modernisierte Version des Marineleichtgeschützes, die MLG27-4.0, liefern. Ein entsprechender Vertrag wurde bereits im Dezember 2022 geschlossen (wir berichteten). Der Kern dieser Waffe ist die Revolverkanone BK-27M. Im Vergleich zum Vorgängermodell verfügt die MLG27-4.0 über eine vollständig digitale Systemarchitektur. Sie bietet zudem technologische Innovationen wie einen integrierten simultanen Tracker, einstellbares Flächenfeuer und die Möglichkeit, externe Zielkoordinaten direkt zu bekämpfen. Eine Tageslichtkamera, ein Infrarotsensor und ein Laserentfernungsmesser sind bei diesem Waffensystem Standard. Die gasbetriebene Revolverkanone ist leicht (102,3 kg mit Lauf) und hat eine Feuerrate von 1.700 Schuss pro Minute. Sie wird auch als Bewaffnung für den Eurofighter, Gripen und Tornado eingesetzt. Rheinmetall bezeichnet die BK27 als die erfolgreichste Bordkanone auf dem Markt mit über 3.000 verkauften Systemen. Die Fregatten der Niedersachsen-Klasse werden über jeweils zwei dieser Systeme verfügen.
2015 installierte Rheinmetall eine 10-Kilowatt-Laserwaffe (High-Energy Laser, HEL Effector) auf einem Marineleichtgeschütz (MLG 27) an Bord einer deutschen Marineeinheit. Diese wurde zur Zielerfassung und -verfolgung eingesetzt.
Die neuen 30mm-Systeme werden mit ihrer Fähigkeit, ABM zu programmieren und abzufeuern, eine tödliche „kegelförmige Wolke“ von Subprojektilen erzeugen. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, kleine, agile und oft kostengünstige Drohnenziele zu treffen, die mit herkömmlichen Direkttreffern schwer zu bekämpfen sind, erheblich. Diese Fähigkeit ist entscheidend, um hochwertige Marinegüter vor asymmetrischen Angriffen zu schützen.
Diese Verbesserung begegnet direkt der Verwundbarkeit, die durch die Fregatten der Klasse F125 Baden-Württemberg hervorgehoben wurde, die jenseits der Reichweite ihrer RAM-Werfer „unzureichend gegen Marschflugkörper- und Drohnenbedrohungen geschützt“ waren.
Paradigmenwechsel in der Nahbereichsverteidigung
Die Ausschreibung für einen Nachfolger des 30x173mm Marineleichtgeschützes in der Deutschen Marine stellt einen entscheidenden Schritt zur Modernisierung ihrer Nahbereichsverteidigungsfähigkeiten dar, mit einem fast schon strategisch zu nennenden Schwerpunkt auf der Abwehr der sich entwickelnden Bedrohung durch unbemannte Luftfahrzeuge (UAVs) und andere asymmetrische Herausforderungen. Die Anforderung an Airburst-Munition sowie an marktgängige und einsatzerprobte Systeme unterstreicht das Engagement für effektive, zuverlässige und sofort einsetzbare Lösungen.
Damit vollzieht sich in der Deutschen Marine ein Wandel. Während das bestehende 27mm MLG 27 auf vielen Schiffen im Einsatz ist und auch in einer modernisierten Version (MLG27-4.0) für die F126 beschafft wird, erfüllt es nicht die zentrale Anforderung der neuen Ausschreibung: die Fähigkeit zur Abwehr von Drohnen mittels Airburst-Munition (ABM). Die Umstellung auf das Kaliber 30x173mm mit ABM-Fähigkeit ist eine direkte Reaktion auf die Lehren aus aktuellen Konflikten, in denen unbemannte Luftfahrzeuge (UAVs) eine erhebliche Bedrohung für Seeeinheiten darstellen.
Umfassende Flottenmodernisierung und Standardisierung
Die geplante Beschaffung von bis zu 175 Waffensystemen über einen langen Zeitraum bis 2041 deutet auf eine umfassende und langfristige Modernisierung der gesamten Flotte hin. Das neue 30mm-System soll nicht nur auf neuen Plattformen wie den Flottendienstbooten der Klasse 424 und zukünftigen F127-Fregatten eingesetzt werden, sondern auch die bestehenden 27mm MLG-Systeme auf anderen Schiffen ersetzen. Dies führt zu einer dringend benötigten Standardisierung der Nahbereichsverteidigung, was Logistik, Wartung und Ausbildung vereinfachen wird. Angesichts des geplanten Beschaffungsumfangs könnte die Einrüstung auch in andere Plattformen, z.B. autonome Überwassereinheiten und die künftigen Einsatzboote angedacht sein.
Erhöhter Selbstschutz für Aufklärung
Die explizite Bewaffnung der neuen Flottendienstboote der Klasse 424, die primär für die elektronische Aufklärung konzipiert und ursprünglich als unbewaffnet geplant waren, ist bemerkenswert. Dem liegt offensichtlich die Erkenntnis zugrunde, dass selbst nicht-kombattante, hochsensible Aufklärungsplattformen in einem zunehmend volatilen und von hybriden Bedrohungen geprägten Umfeld robusten Selbstschutz benötigen.
Zusammenfassend lässt sich schließen, dass die Deutsche Marine mit dieser Ausschreibung nicht nur ihre Bewaffnung modernisiert, sondern eine strategische Neuausrichtung ihrer Nahbereichsverteidigung vornimmt, um den aktuellen und zukünftigen Bedrohungen, insbesondere durch Drohnen, effektiv begegnen zu können. Die lange Laufzeit des Rahmenvertrags und die hohe Stückzahl unterstreichen die langfristige Bedeutung dieser Fähigkeitslücke.
Internationale Alternativen Leonardo MARLIN 30: Dieses System ist mit der 30mm x 173 ATK MK44 Kanone ausgestattet und unterstützt explizit Airburst-Munition (ABM). Es ist modular aufgebaut, leicht und kompakt, und seine anfängliche Einsatzbereitschaft (IOC) war bereits 2012, was auf einen hohen Technologie-Reifegrad (TRL 9) und bewährten Einsatz hindeutet. BAE Systems 30mm Machine Gun System (MGS): Dieses System ist ebenfalls für das Kaliber 30x173mm ausgelegt und kann alle US-NATO-Standard-Munition, einschließlich Hochexplosiv- und Airburst-Munition, abfeuern. Es wurde speziell für die Verteidigung gegen mehrere Bedrohungen, einschließlich unbemannter Luftfahrzeuge, konzipiert. Rheinmetall Sea Snake 30 mm: Dieses System basiert auf der KCE30 30 mm Revolverkanone und wurde explizit auf Wunsch der Deutschen Marine entwickelt. Es ist zur Verwendung von Airburst-Munition (ABM) fähig und soll bis 2025 in Dienst gestellt werden, wobei die brasilianische Marine der Erstkunde ist und Deutschland als zukünftiger Betreiber genannt wird.Daneben existiert auch Elbit Systems 30mm Naval Surface Gun (NSG), bei dem die Unterstützung von Airburst-Munition, eine kritische Anforderung der deutschen Ausschreibung, im vorliegenden Recherchematerial nicht explizit bestätigt wird.
Hans Uwe Mergener