Die Kriegsgefahr in Europa war seit dem Kalten Krieg nie größer. Experten diskutierten beim German Institute for Defence and Strategic Studies, welche Bedrohungen auf die NATO zukommen, warum Europa schnell handeln muss – und was passiert, wenn es das nicht tut.
Auf dem Panel sprachen hochkarätige Experten über die sicherheitspolitische Lage an Europas östlicher Flanke. Marika Linntam, Botschafterin der Republik Estland in Deutschland, schilderte eindrücklich, was es für ihr Heimatland bedeutet, einen Aggressor wie Russland als direkten Nachbarn zu haben. Den militärischen Blick auf die aktuelle Bedrohungslage brachte Generalleutnant Jürgen-Joachim von Sandrart ein, der bis Ende November Kommandeur des Multinational Corps Northeast im polnischen Stettin war. Abgerundet wurde die Diskussion durch Konrad Schuller, politischen Korrespondenten der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin und ehemaligen Korrespondenten für Polen und die Ukraine.
Nach der Eröffnung der Debatte durch Oberst Stefan Klenz von der Führungsakademie der Bundeswehr leitete Kapitän zur See André Pecher als Moderator in das Thema ein. Als „Petrischale“ für ein neues Kriegsbild für uns in Europa bezeichnete er die Lage in der Ukraine. „Nie war die Gefahr eines Krieges zwischen der NATO und Russland so hoch wie seit dem Ende des kalten Krieges“, sagte Pecher. „Bedauerlicherweise kommen immer wieder Drohungen aus Moskau, die sich gegen die Souveränität des östlichen NATO-Staaten richten, aber auch gegen uns“, so Pecher weiter. Klar sei dabei, dass sich diese Staaten nur mit der Unterstützung ihrer Bündnispartner verteidigen können.
Nie war die Kriegsgefahr so hoch
Die Bedrohung, die von der 1.300 Kilometer langen Grenze zwischen NATO und Russland ausgeht, ist real. Besonders spürbar ist dies in den Frontstaaten Finnland, Lettland, Estland, Polen und Litauen. Manche würden sogar behaupten, dass wir uns bereits in einem Krieg mit Russland befinden, so Pecher. Bis vor Kurzem ging die Bedrohung nur vom Osten aus, jetzt lauere die Gefahr ebenso im Westen. Der Eklat zwischen Trump und Selenskyj und das Einfrieren der Ukraine-Unterstützung durch die USA kündeten von einer neuen Zeit: „Es ist die klare Abkehr der USA von einer 80 Jahre währenden Gewissheit eines gemeinsamen Normenverständnisses, ein Bruch der kollektiven Verteidigung und tiefgreifender Wandel für die Sicherheitsarchitektur Europas.“
Angesichts dieser Lage zeigte sich die Botschafterin Estlands dennoch nicht resigniert. Selbst wenn die USA als NATO-Partner entfallen würden, wären in der Allianz noch immerhin 31 Staaten vereint. Sie betonte, dass keinen Grund gebe, warum Europa Russland nicht mit Nachdruck entgegentreten sollte: „Wir haben eine größere Wirtschaft und ein Vielfaches an Bevölkerung“.
„Putin im Griff“, Herausforderung in Berlin
Generalleutnant von Sandrart zog zu Beginn seines Statements Parallelen zum Kalten Krieg und machte deutlich, dass die von Russland ausgehende Gefahr in Deutschland über Jahre hinweg verkannt wurde. In den osteuropäischen Hauptstädten sei man sich der Gefahr schon viel früher bewusst gewesen als in Berlin. In diesem Zusammenhang verwies er darauf, dass Putin keinen Hehl daraus macht, dass er die Ukraine als einen Fehler der Geschichte betrachte. Ebenso den Zerfall der Sowjetunion. Putin wolle ganz klar die Geschichte korrigieren, so von Sandrart. Dies haben die unmittelbaren Nachbarn Russlands verstanden. In seiner Funktion als Kommandierender General habe er „Putin im Griff“ gehabt, seine eigentliche Herausforderung habe aber in Berlin gesessen.
Auch Journalist Konrad Schuller zeigte sich in der Podiumsdiskussion selbstkritisch. Er räumte ein, Russland persönlich ebenso wie viele westliche Politiker falsch eingeschätzt zu haben. Dabei hätten Ereignisse, wie der Krieg in Tschetschenien, die Verhinderung des NATO-Beitritts von der Ukraine und Georgien sowie die Annexion der Krim längst die Pläne Russlands offenbart. Und auch auf Politiker wie Michail Gorbatschow, der in den Baltischen Staaten kritisch gesehen wird, habe der Westen einen anderen Blick gehabt.
Das Fenster ist offen
Mit Blick auf die jetzige Lage und die Gefahr eines Krieges in der NATO machte General von Sandrart klar, dass sich für Russland jetzt ein „Window of Opportunity“ geöffnet hat. Putin wittert die Chance, seine Pläne umzusetzen. Deshalb sei es jetzt wichtig schnell zu handeln. Auf der Zeitachse sehe er drei Bedrohungen: die von Osten, die neuerdings aus dem Westen und sehr deutlich auch von innen. Nicht Geld, sondern Zeit sei nun das Problem.
Ähnlich äußerte sich Marika Linntam: „Die Zeit ist jetzt“. Zu handeln, aber auch mehr in Europa für Verteidigung zu investieren. Gleicher Meinung war auch von Sandrart. Mit den Truppen an der Ostflanke betrachte er Deutschland als Frontnation. Deutsche Soldaten stünden unmittelbar an der Grenze zwischen NATO und Russland. Deshalb sei es wichtig, jetzt die Dinge zu beschaffen, die dringend gebraucht werden und nicht erst im Jahr 2035. Die Investitionen, die wir jetzt vornehmen, müssten schwerpunktmäßig dabei helfen, den gesamten Ostseeraum abzusichern.
„Und wir müssen schnell sein“, fügte von Sandrart hinzu. Dies sei die letzte Legislatur, die es schaffen könne, den Herausforderungen im Osten, Westen und bei uns im Land begegnen können. „Schaffen wir das nicht, liegt die Zukunft unserer Kinder auf dem Gabentisch dunkler Mächte. Dann haben wir haben verloren. Jetzt oder nie“, so sein Appell. Wer Interesse an der Debatte „Die NATO-Ostflanke: Wie groß ist die Kriegsgefahr?“ hat, kann sie auf Youtube als Video sehen.
Holger Schlüter/Anna Wroblewski