Chancen, Herausforderungen und Anforderungen an eine koordinierte Aufrüstung
CDU/CSU und SPD einigten sich in Ihren Sondierungsgesprächen auf eine weitere massive finanzielle Unterstützung der Bundeswehr und ein Sondervermögen für Infrastruktur. Der (alte) Deutsche Bundestag soll am 13. und 18. März zu Sondersitzungen zusammengerufen werden, um die erforderliche Zweidrittelmehrheit für eine Grundgesetzänderung mit den Stimmen der Grünen und der FDP zu erhalten (Es&T berichtete). Auf ihrem Gipfel vom 6. März hat die Europäische Union nun mit einem Plan zur Wiederbewaffnung nachgezogen. Der „ReArm Europe“-Plan stellt eine ambitionierte Initiative dar, um die europäische Verteidigungsfähigkeit zu stärken und langfristig strategische Abhängigkeiten zu reduzieren.
Der ReArm Europe-Plan: Fakten und Ziele
Mit „ReArm Europe“ stellte die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine Initiative vor, die bis zu 800 Milliarden Euro für den Ausbau und die Modernisierung der europäischen Verteidigung mobilisieren soll. Ziel ist es, strukturelle Lücken zu schließen und Europas strategische Autonomie zu stärken, um die Abhängigkeit von externen Sicherheitsgarantien zu reduzieren. Besonders beschleunigt wurde die Initiative als Reaktion auf die kürzliche Aussetzung der US-Militärhilfe für die Ukraine durch Präsident Donald Trump, die die Dringlichkeit für die EU verdeutlichte, eigene Verteidigungsfähigkeiten auszubauen.
Kern des Vorhabens ist eine fiskalische Neujustierung. Die Aktivierung der Ausweichklausel im Stabilitäts- und Wachstumspakt erlaubt es EU-Mitgliedsstaaten, Schulden aufzunehmen, ohne Defizitverfahren ausgesetzt zu sein. Langfristig sollen mindestens 1,5 % des BIP in den Verteidigungssektor fließen. Die Kommission erwartet dadurch bis zu 650 Milliarden Euro an zusätzlichen Mitteln innerhalb von vier Jahren. Ergänzend dazu soll ein Investitionsfonds in Höhe von 150 Milliarden Euro privates Kapital anziehen und bestehende EU-Haushaltsmittel für innovative Verteidigungsprojekte umgeschichtet werden.
Kritische Analyse: Chancen und Herausforderungen
Neben „ReArm Europe“ existieren weitere EU-Finanzierungsmechanismen für Verteidigungsprojekte:
- Europäischer Verteidigungsfonds (EDF): 13 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung.
- Europäische Friedensfazilität (EPF): 5 Milliarden Euro für militärische Ausrüstung und Ausbildung.
- Permanent Structured Cooperation (PESCO): Keine festen Mittel, aber eng an den EDF gebunden.
- Europäische Investitionsbank (EIB): Finanzierung strategischer Projekte im Bereich Cybersicherheit und Infrastruktur.
Der „ReArm Europe“-Plan kann nicht alle sicherheitspolitischen Defizite kurzfristig ausgleichen. Kritische Bereiche wie strategischer Lufttransport, moderne Luftabwehrsysteme, ballistische Raketenabwehr und ISR-Fähigkeiten erfordern gezielte und separate Programme. Zusätzlich sind in der EU-Unstimmigkeiten darüber erkennbar, wie genau die bereitgestellten Mittel verwendet werden sollen. Während Frankreich fordert, dass die Mittel primär für europäische Unternehmen und in der EU hergestellte Ausrüstung verwendet werden, zeigt sich Deutschland offener für die Einbindung von Nicht-EU-Partnern.
Koordination statt nationaler Einzelstrategien
Damit die angestoßene Aufrüstung nicht in nationale Alleingänge mündet, muss ein koordiniertes Vorgehen etabliert werden. Dies betrifft nicht nur EU-Mitglieder, sondern auch nicht-EU-Staaten wie die Schweiz oder NATO-Partner wie die Türkei. Gleichzeitig sorgt die Weigerung Ungarns, sich klar zur Ukraine-Unterstützung zu bekennen, für diplomatische Spannungen innerhalb der EU. Ministerpräsident Viktor Orbán hat mehrfach verhindert, dass die EU eine einheitliche Position gegen Russland einnimmt, was die Geschlossenheit Europas gefährdet.
Auswirkungen auf die NATO
Eine gestärkte EU-Verteidigung könnte die Lastenverteilung innerhalb der NATO gerechter gestalten, könnte jedoch auch Spannungen verursachen, wenn sich die EU als eigenständige Verteidigungsstruktur von der NATO entfernt. Die NATO-Verteidigungsplanung sollte daher als Referenzrahmen dienen, um bestehende Strukturen effizient weiterzuentwickeln.
Strategische Abhängigkeiten und wirtschaftliche Risiken
Trotz der Stärkung der europäischen Rüstungsindustrie bleibt die Abhängigkeit von US-Technologie und chinesischen Rohstoffen ein Problem. Die EU ist auf seltene Erden und kritische Komponenten angewiesen, insbesondere in Avionik, Software und Elektronik. Eine Reduzierung dieser Abhängigkeiten ist essenziell für eine nachhaltige Sicherheitsstrategie. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Michael Schöllhorn, der Chef der Airbus-Rüstungssparte angesichts der mehrfachen Kehrtwenden von US-Präsident Donald Trump davor warnt, dass zusätzliche Verteidigungsausgaben nicht dazu führen dürften, weiter auf US-Produkte zu setzen: „Wenn wir das Mehr an Verteidigungsausgaben nutzen, um weiter Produkte von der Stange in den USA zu kaufen, zementieren wir unsere Abhängigkeit von anderen“, erklärte er gegenüber der Augsburger Allgemeinen. Damit unterstreicht er die Notwendigkeit, verstärkt in europäische Verteidigungsprojekte zu investieren, um langfristig technologische Souveränität zu erreichen und strategische Risiken zu minimieren.
Politische und gesellschaftliche Widerstände
Nicht alle EU-Mitgliedsstaaten unterstützen eine massive Erhöhung der Verteidigungsausgaben. Kritiker sehen in „ReArm Europe“ eine Abkehr von der traditionellen Friedenspolitik der EU und fordern alternative Investitionen in diplomatische Konfliktprävention und Cyberabwehr.
Fazit
„ReArm Europe“ ist ein ambitioniertes Projekt, das Europas Verteidigungsfähigkeiten stärken und eine eigenständigere Sicherheitsarchitektur schaffen soll. Die Finanzierung durch innovative Instrumente könnte die europäische Rüstungsindustrie ankurbeln, doch bleiben strategische Abhängigkeiten von den USA und China problematisch.
Die Auswirkungen auf die NATO sind ambivalent: Einerseits wird die Allianz entlastet, andererseits droht eine Fragmentierung der europäischen Sicherheitsarchitektur. Nationale Interessen dürfen nicht zu einer unkoordinierten Aufrüstung führen.
Ob der Plan die von der Kommission erwarteten wirtschaftlichen Effekte erzielt, bleibt abzuwarten. Besonders profitieren werden etablierte Rüstungskonzerne wie Rheinmetall, Airbus Defence and Space, BAE-Systems und Thales. Die Herausforderung wird sein, dass die bereitgestellten 800 Milliarden Euro effizient eingesetzt werden und nicht in nationalen Alleingängen verpuffen.
Letztlich steht Europa vor der Aufgabe, seine Verteidigungsfähigkeit in einem multinationalen Kontext zu denken und die Fragmentierung der Sicherheitsbemühungen zu überwinden.
Hans Uwe Mergener