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Die Zeitenwende ist mehr als ein Sondervermögen für die Bundeswehr. Welche Lehren hat Deutschland drei Jahre nach Kriegsbeginn gezogen – und welche nicht?

Vor drei Jahren ist der Krieg nach Europa zurückgekehrt. Wenige Tage nach Kriegsbeginn hat Bundeskanzler Scholz die wichtigste und wohl auch beste Rede seiner Amtszeit gehalten. „Wir erleben eine Zeitenwende“, sagte er in der Sondersitzung des Bundestags am 27. Februar 2022. „Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“ Es gehe im Kern um die Frage, ob die Macht das Recht brechen darf, oder „ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen“. Scholz machte eine kurze Pause. „Das setzt eigene Stärke voraus.“

Helene Bubrowski ist stellvertretende Chefredakteurin der digitalen Nachrichtenplattform Table Media (Foto: Privat)

Der Fokus auf die eigene Stärke – das ist neu. Deutschland ist die stärkste Volkswirtschaft Europas, aber militärisch und geostrategisch hat sich die Bundesrepublik zurückgehalten. Angeblich ist das eine Lehre aus dem Schrecken der Nazi-Herrschaft, aber diese  Argumentation wurde über die Jahre immer brüchiger. Denn die Partner in der NATO trieb nicht die Sorge um, dass von Deutschland eine Gefahr für den Weltfrieden ausgehen könnte. Vielmehr stieg unter den Verbündeten der Ärger darüber, dass Deutschland andere die schmutzige Arbeit machen lässt und selbst gut von der Friedensdividende lebt. Der damalige Bundespräsident Gauck stellte schon 2014 die Frage, ob Deutschland entsprechend seiner Bedeutung aktiv sei – und bekam lange keine Antwort.

Aber wie ist es drei Jahre nach der Zeitenwende-Rede um die deutsche Stärke bestellt? Die Ampel-Regierung hat sich durch internen Zwist selbst geschwächt, bis sie zerbrochen ist. Die Wirtschaft schwächelt, es ist das dritte Jahr in Folge ohne Wachstum. Im Vergleich zu den Merkel-Jahren ist der internationale Einfluss Deutschlands gesunken.

Trotzdem: Die Zeitenwende hatte konkretes Handeln zur Folge. Nach Jahren, in denen Deutschland das Zwei-Prozent-Ziel der NATO verfehlte, haben die Parteien der Mitte ein Hundertmilliarden-Euro-Sondervermögen aufgelegt. Die Grünen zogen mit dem Vorsatz in den Wahlkampf, keine Waffen in Krisen- oder Kriegsgebiete zu liefern, die Ampel hatte sich eine restriktive Rüstungsexportpolitik vorgenommen, ist nun nach den USA der zweitgrößte Waffenlieferant an die Ukraine.

Doch die Zeitenwende wäre zu eng gefasst, wenn sie sich in diesen Maßnahmen erschöpfte. Zeitenwende als programmatisches Konzept erfordert eine komplette Neuausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik, ein neues Verständnis der Rolle Deutschlands in der Welt, eine gewissenhafte Priorisierung der staatlichen Ausgaben – ein Mentalitätswechsel nicht nur bei den Regierenden, sondern getragen von der Breite der Gesellschaft.

In den Monaten nach Kriegsbeginn schienen die Deutschen bereit dafür. Das konnte man im Kleinen beobachten: Schrebergartenhausbesitzer, die die Ukraine-Fahne hissten, Bäckereien, die blau-gelb glasierten Kuchen verkauften. Aber auch im Großen: Eine große Mehrheit der Deutschen war der Meinung, dass die Bundesregierung den richtigen Kurs eingeschlagen hatte. Laut waren die Stimmen, die den Kanzler drängten, noch mehr und bessere Waffen zu liefern. Deutschland müsse „kriegstüchtig“ werden, gab Verteidigungsminister Pistorius, der beliebteste Politiker des Landes, als Ziel aus.

Doch die Stimmung im Land hat sich geändert. Im Wahlkampf spielt die Ukrainepolitik kaum eine Rolle mehr; auch in der Union, die vor Monaten noch auf der Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern bestanden und dem Kanzler Zögerlichkeit vorgeworfen hatte, ist es bei diesem Thema sehr ruhig geworden. Ein Blick auf Umfragen liefert die Erklärung. Gut die Hälfte der Deutschen ist der Meinung, dass Deutschland keine weiteren Waffen mehr an die Ukraine liefern sollte. Nur auf Ostdeutschland bezogen sind sogar 69 Prozent gegen eine weitere Unterstützung. Der Wunsch nach Frieden wird im politischen Diskurs nicht mehr zuverlässig ergänzt durch die Mahnung, dass es kein Diktatfrieden sein dürfe. Von den zaghaften Anfängen bei SPD und Union, die Russlandpolitik aufzuarbeiten, ist nicht viel geblieben. Das Momentum für eine echte gesellschaftliche Zeitenwende ist verpufft.

Helene Bubrowski ist stellvertretende Chefredakteurin von Table Media.