
Generation Zeitenwende: So wehrbereit sind junge Menschen in Deutschland
Florian Pfitzner
Russlands Aggression in der Ukraine ist die größte Bedrohung für die europäische Sicherheitsordnung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. In Deutschland wären gerade junge Leute im Verteidigungsfall weniger bereit, selbst zur Waffe zu greifen, meint ein renommierter Jugendforscher. Ergebnisse einer aktuellen Befragung legen indes den Schluss nahe: alles nur Klischees.
Seit dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine ist das Englische um einen Germanismus reicher geworden. Der von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Frühjahr 2022 ausgerufene Kurswechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik wurde kurz nach seiner Regierungserklärung zur russischen Aggression in großen US-Magazinen aufgegriffen. Statt „sea change“ oder „historical turning point“ stand in den Artikeln: „Zeitenwende“.
In seiner Rede ordnete Scholz die historische Tragweite des Angriffs ein. Mit dem Überfall auf die Ukraine habe Russlands Präsident Wladimir Putin „kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen“, erklärte Scholz vor dem Deutschen Bundestag. „Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents.“
Foto: Bundeswehr/MOS
„Die Zeitenwende ist bei der Mehrheit nicht angekommen“
Keine Waffen in Krisengebiete – aus historischen Gründen gehörte dieser Grundsatz bis dahin zu den liebgewonnenen Gewissheiten des Landes. Die neue Außenpolitikdoktrin legte nun fest, dass sich die Ukraine auch mit Material aus Deutschland verteidigen soll. Überdies stellte Scholz ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die eigene Verteidigungsfähigkeit in Aussicht. Das Ziel sei eine „leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt“.
Die Menschen in der Ukraine wehren sich inzwischen seit drei Jahren gegen Putins Russland, in Deutschland erlebt man indes gewisse Abstumpfungseffekte. Nur wenige könnten überhaupt etwas mit Scholz‘ Schlagwort anfangen, behauptete der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) noch vor der Ukraine-Konferenz in der Schweiz: „Zeitenwende in dem Sinne, dass wir uns einer ganz neuen Realität stellen, in der Krieg wieder möglich ist – das ist bei der Mehrzahl der Menschen in Deutschland nicht wirklich angekommen.“
„Jüngere Menschen glauben häufig, sie seien der Regierung egal“
Der Generationenforscher Rüdiger Maas bestätigt Gabriels Gefühl. Er bescheinigt gerade jüngeren Menschen eine schleichende Abkehr vom Staat. „Politisch fühlen sich viele der Generation Z nicht gehört oder vertreten“, sagt Maas im Gespräch mit dieser Redaktion. Es sei ja nur logisch: „Wenn man sich nicht so richtig als Teil von etwas fühlt, warum sollte man dann dafür kämpfen oder sogar sein Leben riskieren?“
Aus dem Ergebnis einer kürzlich veröffentlichten Studie des Augsburger Instituts für Generationenforschung, das Maas gegründet hat, geht hervor, dass 41 Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland unter 30 Jahren „glauben, sie seien der Bundesregierung egal“. Ungefähr jede und jeder Dritte geht sogar davon aus, die Regierung arbeite gegen die Bevölkerung; bei Wählerinnen und Wählern der AfD verdoppelt sich diese Zahl laut der Umfrage. „Nun liegt die Vermutung nahe, dass diese Menschen keine Bindung zu Deutschland haben und sich in einem konstruierten Ernstfall nicht in geringster Weise zur Verteidigung ihrer Heimat verpflichtet fühlten – und ja, am wenigsten wären dazu die Wähler der AfD bereit“, betont Maas. „In gewisser Weise verhalten sich viele AfD-
Anhänger sehr unpatriotisch.“
„Der Gedanke, selbst in den Kampf zu ziehen, wirkt fast absurd“
Von diesen Erkenntnissen einmal abgesehen: Wer ab Mitte der 1990er-Jahre geboren wurde, also jener „Generation Z“ angehört, hat Krieg bis zum russischen Angriff auf die Ukraine generell nur aus fernen Ländern in den Nachrichten gekannt. „Die deutsche Gen Z hat deshalb oft gar kein richtiges Verständnis dafür, was es bedeutet, tatsächlich ein Land zu verteidigen“, sagt Maas, „geschweige denn, was so etwas für einen selbst heißen könnte.“
Zudem kennt man konventionelle Kriegsführung weit über diese, in ihrer Haltung freilich nicht homogene Alterskohorte hinaus nur aus Geschichtsbüchern. „Die meisten Angehörigen der Generation Z denken, dass Kriege heute mehr mit Technologie, Drohnen oder Luftangriffen geführt werden – also technisch fortschrittlich“, erklärt Maas. „Der Gedanke, selbst mit einer Waffe in der Hand in den Kampf zu ziehen, wirkt auf viele junge Leute altmodisch oder fast schon absurd.“
„Im Gegenteil: Der Wehrwille ist bei jungen Menschen gewachsen“
Ist das so? Timo Graf forscht zur öffentlichen Meinung in Deutschland zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Graf sagt im Gespräch: „Im Gegenteil: Eine klare Mehrheit der Männer unter 30 Jahren, 60 Prozent unserer Befragten, wäre aktuell bereit, im Verteidigungsfall mit der Waffe zu kämpfen.“ Auch jede fünfte junge Frau würde sich nach Auskunft des Politikwissenschaftlers „militärisch engagieren“. Absolut gesehen sind das Millionen von wehrbereiten jungen Menschen.
Nach der jüngsten Befragung des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, kurz ZMSBw, ist der Anteil der wehrbereiten jungen Menschen im Vergleich zu 2021 um zehn Prozentpunkte gestiegen – bei Männern und Frauen gleichermaßen. „Als Reaktion auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist der Wehrwille unter den jungen Menschen in Deutschland also gewachsen“, erklärt Graf, der im ZMSBw die jährlichen Bevölkerungsbefragungen leitet.
Zwei Drittel der „Gen Z“ ist für eine deutsche NATO-Mitgliedschaft
Die Wehrbereitschaft unter den jungen Befragten ist nach diesen Ergebnissen ähnlich stark ausgeprägt wie unter den älteren Befragten. „Ein Generationenunterschied ist nicht erkennbar“, konstatiert Graf. Das Forschungsteam aus Potsdam erkundigte sich explizit nach einem „militärischen Angriff auf Deutschland“, es geht somit eindeutig um den Verteidigungsfall.
Grundsätzlich spricht sich diesen Ergebnissen zufolge eine Mehrheit der jungen Menschen in Deutschland für ein aktives deutsches Engagement zur Stärkung der regelbasierten internationalen Ordnung aus – auch mithilfe der Bundeswehr. Demnach plädieren 57 Prozent der jungen Menschen dafür, dass Deutschland bei der Bewältigung von Krisen und Konflikten mithelfen sollte; 32 Prozent sind dagegen. 68 Prozent der Befragten gaben an, dass Deutschland weiterhin der NATO angehören sollte, um seine Sicherheit zu gewährleisten.
Krieg hat Klimawandel als gefühlte Bedrohung abgelöst
Die gerne gescholtene „Generation Z“ steht auch hinter den möglichen Konsequenzen der NATO-Mitgliedschaft. Eine absolute Mehrheit befürwortet den Einsatz der Bundeswehr zur Verteidigung eines Bündnispartners (70 Prozent), zum Schutz internationaler Seewege und Handelsrouten (67) und zur internationalen Terrorismusbekämpfung (60).
Haben junge Menschen in Deutschland die Zeitenwende – oder genauer: diesen Epochenbruch, ausgelöst durch den russischen Angriff auf die Ukraine – tatsächlich verinnerlicht? Politikwissenschaftler Graf hat auch danach gefragt. Im Ergebnis fühlt sich die Hälfte der jungen Menschen in Deutschland durch die Spannungen zwischen Russland und dem globalen Westen in ihrer persönlichen Sicherheit bedroht. Das sind mehr als durch den Klimawandel (46 Prozent). „Vor Russlands Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022 waren sicherheitspolitische Risiken überhaupt kein Thema“, erklärt Graf. „Der Klimawandel dominierte das Bedrohungsempfinden der jungen Menschen – das ist jetzt anders.“
Infolgedessen befürworten mehr als die Hälfte der Befragten unter 30 Jahren (53 Prozent), mehr Geld für Verteidigung auszugeben als für andere Politikbereiche wie Umweltschutz (48), Entwicklungshilfe (29) oder Arbeitslosenunterstützung (21). Vor dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine im Februar 2022 sei das Russlandbild der jungen Deutschen „viel diffuser und insbesondere das Bedrohungsgefühl eher schwach ausgeprägt“ gewesen, sagt Graf. „Inzwischen herrscht eine ernüchternde Klarheit: Russland ist eine Bedrohung für unsere Sicherheit.“
Florian Pfitzner