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„Das Internet ist für uns alle Neuland.“ Dieses Zitat von Angela Merkel aus ihrer Zeit als Bundeskanzlerin hat im Jahr 2013 viel Spott und Häme hervorgerufen. Eine nähere Betrachtung der darauffolgenden Jahre bis heute legt jedoch nahe, dass sie vielleicht gar nicht so unrecht hatte.

Selbstverständlich war die Technologie „hinter dem Internet“ kein Neuland. Doch das Entwicklungs-, Innovations- und Disruptionspotenzial, das die globale Vernetzung und fortschreitende Digitalisierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft mit sich bringt, kann durchaus als Neuland bezeichnet werden.

Die Gründung der BWI geht auf das Projekt HERKULES zurück, eine der größten öffentlichen IT-Ausschreibungen zu jener Zeit in Europa. (Foto: mawibo media)

Ein Phänomen, das in diesem Umfeld seit vielen Jahren besteht, ist die Digitale Konvergenz – also das Verschmelzen von ehemals getrennten Prozess- oder Wertschöpfungsketten – zu einem „neuen Ganzen“ mit hohem Veränderungspotenzial. Ein plakatives Beispiel hierfür ist das Geschäftsmodell „Videothek“ im Vergleich zum „Streamingdienst“. Während das eine durch technologische Entwicklung und Digitalisierung de facto ausgestorben ist, entstand an anderer Stelle ein Markt, der in der Vergangenheit so nicht möglich gewesen wäre.

Auch in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung gilt es, Risiken, Herausforderungen und Chancen der Digitalisierung angemessen zu bewältigen. Die Digitale Konvergenz ist auf dem Gefechtsfeld und in der Sicherheitspolitik in vollem Gang. Aus diesem Grund hat der BDSV e.V. bereits 2018 den Ausschuss „Digitale Konvergenz“ ins Leben gerufen.

Wenn Innovationen und technische Entwicklung einen Veränderungsdruck auf ein System auslösen, sind notwendige Maßnahmen oftmals nur mit Unterstützung von außerhalb des Systems möglich. Zum einen, weil spezifische Fähigkeiten und Erfahrungen für diese Veränderungen erforderlich sind, und zum anderen, weil insbesondere lang bestehende Systeme einen inhärenten Widerstand gegen Veränderung und deren Notwendigkeit aufweisen.

Um das oben genannte Beispiel weiterzuführen: Die meisten Videothekenbetreiber hätten wohl aus eigener Kraft weder die Weiterentwicklung zum Streaming vorangetrieben noch umsetzen können.

Digitalisierung als HERKULES-Aufgabe

Ende der 1990er-Jahre stand die Bundeswehr vor der Aufgabe, ein IT-System für die Streitkräfte und Wehrverwaltung zu etablieren. Dieses sollte die technologischen Entwicklungen und die in der Privatwirtschaft längst erreichten Standards für die Auftragserfüllung der Bundeswehr verfügbar machen. Zum ersten Mal wurde im Kontext der Digitalisierung deutlich, dass die Herausforderungen, die mit der technologischen Entwicklung und Nutzung der entstehenden Möglichkeiten einhergingen, eine „Herkules-Aufgabe“ sind.

Daher griff man auf Leistungsfähigkeit der Privatwirtschaft zurück, was zur Gründung der BWI GmbH führte. Ihre Entstehung geht auf das Projekt HERKULES zurück, eine der größten öffentlichen IT-Ausschreibungen zu jener Zeit in Europa. Ziel war es, die Informations- und Kommunikationstechnik der Bundeswehr zu modernisieren, um ihre Effizienz und Einsatzfähigkeit zu steigern.

Es brauchte also ein zusätzliches Element „außerhalb des Systems“, um dieses weiterzuentwickeln und die notwendigen Veränderungen mit all den einhergehenden Dissonanzen zu bewältigen.

Heute ist die BWI mit rund 7.000 Mitarbeitenden ein wesentliches Element in allen Digitalthemen der Streitkräfte und eine der größten Vergabestellen für IT-Projekte. Einige sehen die BWI mittlerweile eher als ein Teil der Streitkräfte als der Privatwirtschaft. Sie ist zum Teil des (neuen) Systems geworden.

Dieses System steht nun erneut vor der Herausforderung, weitere Technologien wie Künstliche Intelligenz und Cloud zu nutzen. Dafür muss es wiederum verstärkt Expertise von außerhalb des Systems, also aus der Privatwirtschaft, einbeziehen.

Neu ist, dass Innovationszyklen heute immer kürzer werden und das Disruptionspotenzial an verschiedenen Stellen enorm steigt. Es gibt nicht mehr nur die zwei, drei großen Unternehmen, die diesen Herausforderungen monolithisch in einem großen Vergabeverfahren begegnen können. Die benötigte Expertise ist deutlich breiter verteilt – auf größere und kleinere privatwirtschaftliche Unternehmen.

Im April 2017 gründete man den militärischen Organisationsbereichs CIR, der im Mai 2024 zur Teilstreitkraft wurde. (Foto: Bundeswehr)

Steigende Relevanz des Cyber- und Informationsraums

Informationstechnik war in den Streitkräften zunächst nur ein Werkzeug. Neben Funkkommunikation und Datenverarbeitung wurden weitere Kommunikationsmittel, Führungsinformationssysteme und Führungswaffeneinsatzsysteme zu einer wesentlichen Ressource in der militärischeren Führung und Wirkung. Die meisten dieser Systeme wurden von der Privatwirtschaft entwickelt und im klassischen Rüstungsprozess beschafft und sind stark auf eine Dimension oder ein Systemumfeld begrenzt.

Parallel wurde im Bereich des (Militärischen) Nachrichtenwesens der Aspekt OSINT (Open Source Intelligence) durch Internet, Social Media und die pure Menge an verfügbaren Informationen immer relevanter. Dies, verbunden mit der zunehmenden digitalen Vernetzung nahezu aller Lebensbereiche und kritischer Infrastrukturen, führte letztlich dazu, dass der Cyber- und Informationsraum (CIR) nicht mehr länger nur ein Werkzeug, sondern eine eigenständige militärische Dimension wurde. Das Ergebnis war im April 2017 die Gründung des militärischen Organisationsbereichs CIR, der im Mai 2024 zur Teilstreitkraft (TSK) wurde.

Diese Entscheidung basierte auf der Erkenntnis, dass die Bundeswehr vor neuen Bedrohungen und Herausforderungen im digitalen Zeitalter steht, die mit konventionellen Mitteln nicht effektiv bewältigt werden können. Die CIR TSK bündelt Kompetenzen aus den Bereichen IT-Sicherheit, Cyberabwehr, elektronische Kampfführung und militärische Aufklärung, um den Schutz und die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands im digitalen Raum sicherzustellen. Sie trägt damit der wachsenden Bedeutung von Cyberoperationen und der Notwendigkeit einer integrierten, übergreifenden Verteidigungsstrategie Rechnung.
Die TSK CIR ist aus naheliegenden Gründen in der Nutzung von IT und ihren Handlungsfeldern näher an der privaten Wirtschaft als an Heer, Luftwaffe und Marine. Insbesondere im Bereich Cybersecurity und -defense gab und gibt es mehr Erfahrung in der Privatwirtschaft als im öffentlichen Bereich.

Bis vor einiger Zeit – und in manchen Vorstellungen auch noch bis heute – waren CIR, BWI und das entsprechende IT-Ökosystem aus der Privatwirtschaft relativ getrennt von den klassischen Firmen der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (SVI), die Streitkräfte für Land, Luft und See ausrüsten. Die „Digitalisierung der Streitkräfte“ hat es nicht gegeben. Konsolidierung, Standardisierung und das Aufbrechen von Silos wurden zur neuen Herkules-Aufgabe, insbesondere vor dem Hintergrund der heutigen Gefechtsfeldrealität und der aktuellen sicherheitspolitischen Lage.

Digitale Konvergenz findet statt

Auf diversen Veranstaltungen des BDSV wurden die verschiedenen Dimensionen der Konvergenzbewegung in Sicherheit und Verteidigung diskutiert. Ein kleiner Auszug wesentlicher Punkte:

  • Die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit verschwimmen, insbesondere vor dem Hintergrund hybrider Bedrohungen.
  • Die Einsatzszenarien und Wirkungsfelder militärischer Systeme konvergieren und das Wirken im Verbund wird immer wichtiger als das Fähigkeitsprofil einzelner Systeme.
    Zivile (und teilweise kostengünstige) Technologien entfalten enorme Wirkung beim Einsatz auf dem Gefechtsfeld (beispielsweise der Masseneinsatz billiger Drohnen).
  • Darüber hinaus hat der Krieg in der Ukraine gezeigt, wie wichtig Anpassungsfähigkeit und technische Agilität als Erfolgsfaktoren auf dem Gefechtsfeld sind. Das Fähigkeitsprofil, das zur Überlegenheit in einer Auseinandersetzung führt, ist nicht mehr statisch.
  • Das System, das auf plattformzentrischer Fähigkeitsentwicklung, langwierigen Beschaffungsprozessen, langfristigen Nutzungszeiträumen und komplizierten als auch langsamen Update-Zyklen basiert, steht erneut vor Herausforderungen, die nicht allein innerhalb des Systems gelöst werden können.
  • Software Defined Defence (SDD) ist das Schlagwort für ein Paradigma, mit dem diese neuen Herausforderungen bewältigt werden sollen. Der wesentliche Aspekt hierbei ist die Entkopplung der Entwicklungszyklen auf Systemebene (Fahrzeug, Flugzeug, Schiff) von der eigentlichen Entwicklung softwarebasierter Fähigkeiten.

Übergreifende Zusammenarbeit als Schlüssel zur Verteidigungsfähigkeit

Um das Paradigma oder auch die Philosophie von SDD umzusetzen, braucht es ein echtes Ökosystem, das auf übergreifenden Standards für Daten, Softwareentwicklung, Zusammenarbeit, Wertschöpfung und Governance basiert. Neben dem Geschäftsbereich des BMVg, insbesondere dem BAAINBw, ist die BWI ein zentraler Dreh- und Angelpunkt.

Noch wichtiger als zuvor ist jedoch die Einbindung der Privatwirtschaft – in neu gedachten Modellen. Ein einzelnes Generalunternehmen, das eine Plattform baut, kann und wird nicht mehr die gesamtheitliche Verantwortung für das Fähigkeitsprofil des Waffensystems tragen können. Die benötigte Expertise ist auf viele Unternehmen unterschiedlicher Größenordnungen verteilt. Die Privatwirtschaft spielt weiterhin eine wichtige Rolle in der Digitalisierung der Streitkräfte!

Erfolgsfaktoren für den nächsten Entwicklungsschritt sind:

  • Zusammenarbeit und Einbindung der Privatwirtschaft auf Augenhöhe. Es müssen Vertrags- und Zusammenarbeitsmodelle gefunden werden, die partnerschaftliche Ansätze, geteilte Verantwortung und echte Expertisenutzung priorisieren.
  • Die Hürden für kleine und/oder hochinnovative Unternehmen sich einzubringen, müssen gesenkt werden. Die Grenzen zwischen SVI und IT-Branche sind wie die Plattformgrenzen für militärische Fähigkeiten nicht mehr klar zu trennen. Digitale Konvergenz und SDD müssen gelebt werden.

Gemeinsam kann das Ökosystem dafür sorgen, dass Sicherheit und Verteidigung nicht das gleiche Schicksal wie Videotheken erleiden, zumal hier mehr auf dem Spiel steht als nur ein Geschäft(smodell).

Marc Akkermann ist Vorsitzender des Ausschusses für Digitale Konvergenz in Sicherheit und Verteidigung beim BDSV e.V. und Teil des Vorstands von AFCEA Bonn e.V. Er lehrt „Digitale Transformation“ für MBA-Studierende an der Universität Potsdam.