Putin sagte bei seinem Auftritt vor führenden Vertretern des Verteidigungsministeriums im Dezember 2012: „Wir werden die Verbesserung unserer Streitkräfte in einem umfassenden Ansatz fortsetzen. Eine entscheidende Aufgabe dabei ist die Entwicklung der nuklearen Triade, der Schlüsselgarantie von Russlands militärischer Sicherheit und globaler Stabilität.“
Im Weißbuch 2016 heißt es: „Russland ist bereit, die eigenen Interessen auch gewaltsam durchzusetzen und völkerrechtlich garantierte Grenzen zu verschieben.“ Spätestens mit dem völkerrechtswidrigen Angriff gegen die Ukraine im Februar 2022 und dem bis heute dort andauernden Krieg ist die Richtigkeit der damaligen Feststellung nachdrücklich belegt. Das imperialistische Vorgehen der Russischen Föderation gründet sich im Wesentlichen auf ihrer militärischen Macht einschließlich ihres Nuklearpotenzials.
Die Nuklearstrategie der russischen Föderation
Mit Ende des Kalten Krieges, dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Streitkräfte wurde eine neue russische Militärstrategie entwickelt. Das betraf auch die russische Nuklearstrategie als ihr integraler Bestandteil. Dieser Prozess fand im Juni 2020 seinen vorläufigen Abschluss mit der Unterzeichnung des Dekrets über die Grundprinzipien der staatlichen Politik der Russischen Föderation im Bereich der nuklearen Abschreckung durch Präsident Putin. Das siebenseitige Dokument fasst die Prinzipien der nuklearen Abschreckungspolitik Russlands zusammen, beschreibt ihre Ziele, erläutert die Voraussetzungen für den Einsatz russischer Nuklearwaffen und regelt die Befugnisse für ihren Einsatz. Oberstes Ziel staatlichen Handelns ist die Abschreckung eines potenziellen Gegners gegen die Russische Föderation und einer damit einhergehenden existenziellen Bedrohung einschließlich des Aufbaus militärischer Drohpotenziale in den Anrainerstaaten.
Die Bedingungen, die über die Möglichkeit eines Einsatzes nuklearer Waffen entscheiden sind:
- der Eingang glaubwürdiger Informationen über den Abschuss ballistischer Raketen, die das Territorium der Russischen Föderation und / oder ihrer Alliierten angreifen,
- der Einsatz von Nuklearwaffen oder anderer Arten von Massenvernichtungswaffen durch einen Gegner gegen die Russische Föderation und / oder ihrer Alliierten,
- ein gegnerischer Angriff auf kritische Einrichtungen des Staates oder des Militärs der Russischen Föderation, deren Unbrauchbarmachung nukleare Reaktionen vereiteln würde,
- ein Angriff gegen die Russische Föderation mit konventionellen Waffen, wenn die Existenz des Staates dadurch gefährdet würde.
Erstmalig verzichtet Russland auf den jahrelang deklaratorisch formulierten Verzicht auf einen nuklearen Ersteinsatz (No First Use). Dieser Verzicht ist den geänderten geostrategischen, politischen und militärischen Rahmenbedingungen geschuldet. Am 25. September 2024 kündigte Präsident Putin eine Änderung der Nuklearstrategie an. Künftig soll eine Aggression gegen Russland, die ein Staat, der keine Atomwaffen besitzt, mit Unterstützung eines Staates durchführt, der Atomwaffen besitzt, als Angriff einer Atommacht gewertet werden. Diese Änderung klingt maßgeschneidert für die Lage in der Ukraine und es bleibt abzuwarten, ob und wann die Änderung durch ein präsidiales Dekret in Kraft gesetzt wird. Erst dann wird über eine qualitative Veränderung in der russischen Nuklearstrategie zu urteilen sein.
Das russische nukleare Kräftedispositiv
Die Russische Föderation verfügt global über das größte Atomwaffenpotenzial aller Staaten. Zahlenangaben über das russische Nuklearpotenzial beruhen in der Regel auf Schätzungen. Als seriöse Quellen gelten das Bulletin of the Atomic Scientists und die Veröffentlichungen des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI). Sie dienten für die folgende Analyse als wesentliche Quellen.
Die Russische Föderation verfügt über insgesamt 5.580 nukleare Sprengkörper. Davon sind 1.200 ausgemustert und warten auf ihre Zerlegung. Die verbleibenden 4.380 unterteilen sich in 2.822 strategische Nuklearsprengkörper und 1.558 nicht strategische Nuklearsprengkörper. Von den 2.822 strategischen Nuklearsprengkörper sind 1.710 fest ihren Trägersystemen zugeordnet und dort verfügbar, während die verbleibenden 1.112 in ca. 40 Sondermunitionslagern landesweit bereitgehalten werden. Das Rückgrat der strategischen Nuklearkräfte bilden die Strategischen Raketentruppen als eigene Teilstreitkraft.
Geführt werden sie aus einem Zentralkommando in Wlassicha in der Nähe von Moskau. Sie umfassen 50.000 Soldaten und gliedern sich in drei Armeen (27. Raketenarmee in Wladimir, 31. Raketenarmee in Orenburg und 33. Raketenarmee in Omsk) mit zwölf unterstellten Raketendivisionen. Die Hauptwaffensysteme der Strategischen Raketentruppen sind silobasierte und mobile Interkontinentalraketen der Typen SS-18 und SS-27. Sie haben eine Reichweite von über 10.000 Kilometern und verbringen Sprengköpfe mit einer Sprengkraft bis zu 500 Kilotonnen. (Zum Vergleich: Die 1945 durch die USA in Japan eingesetzten Atombomben hatten eine Sprengkraft von 16 bzw. 24 Kilotonnen). Die Masse der Interkontinentalraketen verfügt über eine MIRV -Fähigkeit (Multiple independently retargetable vehicle). Insgesamt können die Strategischen Raketentruppen unverzüglich 870 nukleare Sprengkörper verbringen.
Die seegestützten strategischen russischen Nuklearkräfte umfassen zwölf atomgetriebene U-Boote. Dabei handelt es sich um fünf U-Boote der „Delta“-Klasse und sieben U-Boote der „Borei“-Klasse. Jedes der Boote kann mit bis zu 16 MIRV-fähigen Interkontinentalraketen bestückt werden. Insgesamt sind die Boote ständig mit 640 nuklearen Sprengköpfen bestückt. Die fünf U-Boote der „Delta“-Klasse sind der Nordflotte mit Heimathafen Gadschijewo auf der Halbinsel Kola zugeordnet. Sie werden in nächster Zukunft durch weitere, sich im Bau befindliche U-Boote der „Borei“-Klasse abgelöst. Dann sind je sechs U-Boote dieser Klasse der Nordflotte und der Pazifikflotte assigniert. Die atomgetriebenen und atomar mit Interkontinentalraketen bewaffneten U-Boote bilden neben den mobilen landgestützten Interkontinentalraketen die wesentliche Komponente der russischen Zweitschlagfähigkeit. Für den luftgestützten Einsatz weiterer 200 strategischer Nuklearsprengköpfe stehen 58 Bomber des Typs Tu-95 (Bear) und des Typs Tu-160 (Blackjack) zur Verfügung. Die Nuklearsprengköpfe haben eine Sprengkraft von bis zu 200 Kilotonnen und können mittels Marschflugkörper mit einer Reichweite von bis zu 3.000 Kilometern ins Ziel gebracht werden.
Bisher operierte die strategische Bomberflotte von den Luftwaffenstützpunkten Engels in der Oblast Saratow und Ukrainka in der Oblast Amur. Aufgrund der erfolgreichen Bekämpfung dieser Luftwaffenbasen durch ukrainische Drohnenangriffe erfolgt eine Dislozierung dieser Kräfte auf den Luftwaffenstützpunkt Olenja in der Oblast Murmansk. Die nicht strategischen Nuklearwaffen haben eine Reichweite von bis zu 2.500 Kilometern und eine Sprengkraft von bis zu 100 Kilotonnen. Mit 784 nuklearen Sprengköpfen verfügt die Marine über den größten Bestand dieser Kategorie.
Sie kommen von verschiedenen Schiffstypen als nuklear bestückte Marschflugkörper zum Einsatz. Die Luftwaffe verfügt über 334 nicht strategische nukleare Sprengköpfe, die durch Marschflugkörper, zielgelenkte Bomben, Luft-Boden- sowie als Luft-Luft-Raketen eingesetzt werden. Als Trägermittel dienen Kampfflugzeuge mittlerer und kurzer Reichweite der Typen Tu-22M3 (Backfire), Su-24 (Fencer) und Su-34 (Fullback). Weitere 345 nicht strategische Nuklearsprengköpfe sind für die Luftverteidigung und den Küstenschutz vorgesehen. Darüber hinaus verfügen die Landstreitkräfte in den zwölf Raketenbrigaden der Armeen über 95 taktische nukleare Sprengköpfe, die durch den Raketenwerfer Iskander mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern und einer Sprengkraft bis zu 100 Kilotonnen verschossen werden können.
Die Trägermittel der nicht strategischen Nuklearsprengköpfe sind zweitrollenfähig, d.h. sie können sowohl konventionell als auch nuklear bewaffnet werden. Das gesamte russische nukleare Kräftedispositiv unterliegt einem permanenten Modernisierungs- und Weiterentwicklungsprozess. Bei den Strategischen Raketentruppen ist die Modernisierung zu ca. 90 Prozent abgeschlossen. Repräsentativ für die Weiterentwicklung stehen der landgestützte Marschflugkörper Burwestnik, der nukleargetriebene Torpedo Poseidon, der Marschflugkörper Kalibr und die Hyperschallrakete Kinschal.
Planung und Einsatz
Die oberste politische Führung im Bereich der nuklearen Abschreckung wird durch den Präsidenten der Russischen Föderation ausgeübt. Der Sicherheitsrat der Russischen Föderation formuliert die Grundprinzipien der Militärpolitik im Bereich der nuklearen Abschreckung und koordiniert alle exekutiven Organe zur ihrer Sicherstellung. Das Verteidigungsministerium führt und plant durch den Generalstab die organisatorischen und militärischen Maßnahmen im Bereich der nuklearen Abschreckung. Den russischen strategisch-operativen Überlegungen zur Planung und zum Einsatz von Nuklearstreitkräften liegt das russische Modell des Eskalationsmanagements zugrunde.
Dieses Modell beschreibt fünf Szenarien (sicherheitspolitische Aggregatzustände): Frieden, Bedrohung, Lokaler Krieg, Regionaler Krieg und Großer Krieg / Atomkrieg. Im Zustand Frieden und Bedrohung ist kein Einsatz von Nuklearstreitkräften vorgesehen. Sie werden lediglich in angemessenen Bereitschaftsständen verfügbar gehalten. Lokale Kriege sind definitorisch als solche Kriege und Operationen bestimmt, die nur zwei Staaten in einem geografisch beschränkten Raum betreffen. Hierfür ist ebenfalls kein Nuklearwaffeneinsatz vorgesehen.
Der Übergang vom Lokalen zum Regionalen Krieg kann fließend sein. In diesem Prozess kann es zum Einsatz der operativen oder taktischen nuklearen Waffen kommen. Gemäß der russischen Kategorisierung von Nuklearwaffen sind Systeme mit bis zu 2.500 Kilometern Reichweite, die nicht als strategisch klassifiziert sind, als operative Systeme einzuordnen. Taktische Nuklearwaffen sind Systeme mit einer maximalen Reichweite von 500 Kilometern, deren Hauptaufgabe es ist, konventionelle Unterlegenheit zu kompensieren.
Für den Fall des Großen Krieges / Atomkrieges ist das gesamte nukleare Potenzial für einen Einsatz vorgesehen. Das Zielspektrum für einen Nuklearwaffeneinsatz umfasst sowohl militärische als auch zivile Ziele. Bei den militärischen Zielen handelt es sich um landgestützte defensive und offensive militärische Potenziale, Führungseinrichtungen und Kommunikationsnetze. Seegestützte militärische Ziele sind maritime Einsatzmittel, die die russische Vergeltungsfähigkeit /Zweitschlagfähigkeit bedrohen. Als wichtige zivile Ziele gelten Einrichtungen, die zur Aufrechterhaltung der staatlichen Funktionen dienen, aber auch Städte als sogenannte Counter Value Targets. Insgesamt sind die Einsatzregeln für russische Atomwaffen so allgemein gehalten, dass die russische Nukleardoktrin eine hohe Ambiguität auszeichnet.
Der Bereitschaftsstand der russischen Nuklearkräfte ist im sogenannten Atomstufenplan geregelt. Er umfasst folgende Stufen:
- Friedenszeit,
- Erhöhte Alarmbereitschaft (die betroffenen Truppenteile sind dauerhaft, 24/7, in Bereitschaft),
- Militärische Gefahr (die Trägermittel und die nuklearen Sprengköpfe werden zusammengeführt und scharf gemacht),
- Einsatz / Krieg mit Nuklearwaffen.
Für alle nicht strategischen Nuklearwaffen gilt, dass im Normalfall (Stufe 1 des Atomstufenplans) Trägermittel und nukleare Sprengköpfe getrennt voneinander bereitgehalten werden. Über die tatsächliche Einsatzbereitschaft der russischen Nuklearstreitkräfte ist mit Blick auf ihren technischen Zustand, den Ausbildungsstand der Truppe sowie der erforderlichen Logistik eine belastbare Aussage aufgrund der Geheimhaltung und Abschottung kaum möglich.
Der russische Präsident ist in seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte alleinig berechtigt, den Einsatz von Nuklearwaffen anzuordnen. Fällt der Präsident für diese Entscheidung aus, geht die Befugnis auf den Premierminister über. Der Präsident bildet mit dem Verteidigungsminister und dem Chef des Generalstabes das oberste nationale Führungsgremium. Der Prozess der politisch-militärischen Entscheidungsfindung wird durch das Nationale Führungszentrum für die Verteidigung der Russischen Föderation unterstützt. Dazu erfolgt im Nationalen Führungszentrum eine ständige Lagebeurteilung einschließlich der Bewertung möglicher nuklearer Einsatzoptionen.
Das Führungsgremium autorisiert den nuklearen Einsatz über den Generalstab an die nuklearen Einsatzkräfte. Dazu bedient es sich der sogenannten Aktentasche
(Cheget). Cheget ist Teil des staatlichen Kommunikationsnetzwerkes Kazbek. Über das nukleare russische Führungssystem Perimetr (Tote Hand) wird im Fall eines nuklearen gegnerischen Enthauptungsschlages, der die politische und militärische Führung handlungsunfähig macht, automatisch ein allumfassender nuklearer Gegenschlag ausgelöst. Ein wichtiges Merkmal der russischen Nuklearstrategie ist ihre Rolle als Element der Propaganda und der hybriden Kriegführung.
Sie richtet sich gezielt an den Westen, seine demokratischen Gesellschaften und politischen Eliten mit dem Ziel, durch die Androhung eines Nukleareinsatzes Angst zu schüren und die freie politische Entscheidungsgewalt einzuschränken. Allein im Krieg gegen die Ukraine hat Präsident Putin im Zeitraum von Februar 2022 bis November 2023 elfmal durch die Androhung eines Einsatzes von Nuklearwaffen sogenannte Rote Linien gezogen. Blickt man auf die verzögerte und unzureichende westliche Unterstützung der Ukraine in ihrem Überlebenskampf gegen den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands und die unverändert gültigen Beschränkungen beim Einsatz weitreichender westlicher Waffensysteme gegen Ziele auf russischem Territorium, ist man geneigt, der russischen Strategie und ihrer Drohung mit Nuklearwaffen bis heute einen Erfolg zuzubilligen. Die bisher nicht erfolgte russische Umsetzung ihrer Drohungen in nukleare Sanktionen sollte jedoch die westlichen Entscheidungsträger endlich bewegen, ihre Zurückhaltung bei der Unterstützung aufzugeben, um die Ukraine so in eine vorteilhafte Situation zu bringen.
Zusammenfassung
Russland verfügt mit insgesamt 5.580 nuklearen Sprengköpfen global über das größte Atomwaffenpotenzial. Die seit Juni 2020 gültige Nuklearstrategie ist eine Abschreckungsstrategie, die keinen deklaratorischen Verzicht auf einen Ersteinsatz mehr beinhaltet. Der hohe Anteil an nicht strategischen, nach russischer Kategorisierung operativ und taktisch klassifizierten Nuklearsprengkörpern ist den geänderten geostrategischen und militärischen Rahmenbedingungen geschuldet.
Die Struktur des russischen Nuklearpotenzials erinnert an die US-amerikanische Triade und verfügt über eine gesicherte Zweitschlagfähigkeit. Die Freigabekompetenzen und -verfahren zum Einsatz von russischen Nuklearwaffen sind geregelt und etabliert. Die alleinige Autorität liegt beim Präsidenten. Die ständige Modernisierung und Weiterentwicklung des nuklearen Komplexes hat für die russische politische und militärische Führung eine hohe Priorität. Bemerkenswert bleibt die russische Drohung des Einsatzes von Nuklearwaffen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine und die damit verbundene Zielsetzung, die politischen Entscheidungsprozesse im Westen zu beeinflussen.
Da ein Überschreiten der Roten Linien durch die westlichen Staaten bisher aber ohne russische Folgen blieb, sollte der Westen seine Zurückhaltung bei der Unterstützung der Ukraine aufgeben. Es ist dringend geboten, sich von dem Status „Nicht die Bombe ist die Waffe, sondern die Angst davor“ zu lösen. Das nukleare Säbelrasseln ist traditionell für Russland und der Kreml weiß, dass der Krieg in der Ukraine militärisch nicht durch den Einsatz einer nuklearen Gefechtsfeldwaffe zu gewinnen ist. Von daher verbieten sich in diesem Zusammenhang auch die wahlkampftaktischen Verhaltensweisen von Regierungen mit sicherheitspolitischer Verantwortung.
Heinrich Fischer
Brigadegeneral a. D. Heinrich Fischer war zuletzt Kommandeur Heeresschulen und Stellvertretender Amtschef Heeresamt.