Russland soll zum ersten Mal in der Geschichte militärischer Konflikte eine Interkontinentalrakete eingesetzt haben. In der Nacht vom 20. auf den 21. November wurden Einschläge in der Stadt Dnipro im Südosten der Ukraine gemeldet. Die ukrainische Luftwaffe sieht in dem Angriff auf Dnipro den Einsatz einer Interkontinentalrakete mit konventionellen Sprengköpfen. Dabei soll der Yuzmash-Industriekomplex zur Herstellung von ukrainischen Raketensystemen getroffen worden sein.
Interkontinentalraketen sind ballistische Raketen mit tausenden Kilometern Reichweite. Sie dringen bis in den erdnahen Weltraum ein und können als Trägermittel für Kernwaffen fungieren. Das macht die Intercontinental Ballistic Missiles (ICBMs) zum wichtigsten Teil der Atomstreitkräfte von Atommächten. Viele ICBMs sind durch Mehrfachsprengköpfe charakterisiert. Das bedeutet, dass eine Trägerrakete mehrere konventionelle oder nukleare Sprengköpfe nach dem Ausbrennen der letzten Raketenstufe unabhängig voneinander zünden und in sie in ihre Ziele führen kann. Das führt zu einer größeren Streuung und Bekämpfung mehrerer Ziele.
Videomaterial des Angriffs auf Dnipro weist Merkmale des Einsatzes solcher Mehrfachsprengköpfe auf. Von verschiedenen Quellen sind mehrere Salven von sechs simultan einschlagenden Projektilen zu sehen. Das ukrainische Medium Ukrainska Pravda beruft sich auf anonyme Quellen und gibt an, dass es sich um die russische „RS-26 Rubezh“ Interkontinentalrakete handelt.
Die RS-26 ist eine mittelschwere, feststoffgetriebene ballistische Rakete aus der Topol-M-Familie und hat eine Reichweite von 6000 km. Offiziell ist die Entwicklung der Rakete zwar eingestellt, Wiederaufnahmen und die Weiterführung russischer Raketenprogramme unterliegen jedoch strenger Geheimhaltung.
Typ | ATACMS | Storm Shadow SCALP | Taurus | RS-26 |
Länge | 4,00 m | 5,100 m | 5,10 m | 15-18,5 m |
Gefechtsgewicht | 1.670 kg | 1.300 kg | 1.360 kg | 36.000+ kg |
max. Geschw. | Mach 3 | Mach 0,8 | Mach 0,95 | Mach 20 |
Reichweite | bis 300 km | bis 560 km | über 500 km | 6000km |
Im Gespräch mit ABC News äußerte ein nicht näher genannter westlicher Experte deutliche Zweifel an dem ukrainischen Vorwurf gegen Russland. Demnach soll es sich um die Einschläge von bisher bereits genutzten herkömmlichen ballistischen Raketen handeln. Der russische Pressesprecher Peskow kommentierte den Vorfall nicht und verwies auf Sprecher der russischen Streitkräfte.
Sollte sich der Vorwurf bestätigen, würde dies eine weitere Eskalation darstellen. Der Kreml hatte in den letzten Wochen mehrfach angekündigt, auf die Aufhebung westlicher Reichweitenbeschränkungen von Storm Shadow und ATACMS mit einer „angemessenen Antwort“ zu reagieren. Der Einsatz von Interkontinentalraketen wäre in diesem Kontext ein Signal an den Westen und Demonstration der russischen Bereitschaft, weiter zu eskalieren.
Jannis Düngemann