Während der erstmals durchgeführten Recovery Days hat Rheinmetall im Juni in Wien sein Portfolio an Bergefahrzeugen einem internationalen Kreis von Experten, Planern und Beschaffern aus den Streitkräften präsentiert. Rund 50 Teilnehmer aus 16 Ländern konnte Rheinmetall MAN Military Vehicle (RMMV), das Joint Venture von Rheinmetall und MAN für die Produktion von militärischen Logistikfahrzeugen, in seiner Produktionsstätte in Wien Liesing begrüßen.
In Wien stellt RMMV taktische Lkw her, die von Grund auf nach militärischen Anforderungen konstruiert sind, und militarisierte Lkw, die nach militärischen Anforderungen aus- bzw. umgerüstet sind sowie sogenannte White Fleet Trucks, zivile Lkw, die nahezu unverändert für die Streitkräfte produziert werden.
Die taktischen Lkw gehören zur Baureihe HX2, die u.a. seit 2017 in großer Stückzahl als ungeschützte Transportfahrzeuge (UTF), Wechselladersysteme, Zugmaschinen, Trägerfahrzeuge für Spezialausrüstungen wie Radargeräte und Raketenwerfer und Bergefahrzeuge an die Bundeswehr und andere Streitkräfte ausgeliefert werden. Mit Antriebsformaten von 4×4 bis 10×10 wird ein Nutzlastspektrum von 3,5 Tonnen bis 28 Tonnen abgedeckt.
Im Mittelpunkt der Vorführung in einem Steinbruch südwestlich von Wien stand das schwere 8×8 Bergefahrzeug mit geschützter Kabine. In dieser Ausführung wird das bis zu 41 Tonnen (zulässiges Gesamtgewicht) schwere Fahrzeug von einem 400-kW-Euro 5-Dieselmotor über einen ZF Ecolife-Getriebeautomaten angetrieben. Der Motor liefert über einen Nebenabtrieb auch die Energie für die gesamte Hydraulik, mit der Kran und Winden betrieben werden. In der geschützten Kabine, die auch gegen eine ungeschützte Kabine getauscht werden kann, finden bis zu drei Passagiere Platz. Die Kabine ist für die Aufnahme von Führungs- und Kommunikationssystemen sowie für die Aufnahme einer fernbedienbaren Waffenstation vorbereitet. Daher tragen die Fahrzeuge das Eiserne Kreuz der Bundeswehr als Erkennungszeichen für Gefechtsfahrzeuge.
Das vorgeführte schwere 8×8 Bergefahrzeug war kurz vor den Recovery Days in Kanada zum Nachweis des Leistungsvermögens nach den Anforderungen der kanadischen Streitkräfte.
In das Bergefahrzeug haben drei Spezialisten ihr Know-How eingebracht und ein System geschaffen: Für Mobilität und Energieversorgung steht der HX-Lkw von RMMV. Der Bergeaufbau mit Kran, Bergebrille und Hydraulik stammt von Miller Industries (USA). Die Haupt- und die zwei Kranwinden mitsamt der Steuerung kommen von Rotzler. In gemeinsamer Entwicklung entstand ein Bergesystem, das aus einer Hand bedient werden kann.
In den Bergeaufbau ist ein rundum drehbarer und auf zehn Meter ausfahrbarer Kran Rotator 1130 integriert. Damit können Objekte an jeder Stelle in der Umgebung des Fahrzeugs aufgenommen und umgesetzt werden. Dafür werden die Seile mit Anschlagmitteln über zwei Rollen an der Auslegerspitze geführt. Für den Abtransport verfügt das Bergemodul über eine Bergebrille mit 15 Tonnen Tragfähigkeit, die unter die Vorderräder des abzuschleppenden Fahrzeugs geschoben wird, sowie über einen Hubarm zur festen Verbindung zum geschleppten Fahrzeug.
Zwei Windensysteme stehen für Zug- und Hebeaufgaben zur Verfügung. Die Hauptwinde ist eine Capstanwinde mit konstanter Zugkraft von 250 kN. Die nutzbare Seillänge beträgt 103 Meter. Für die Kranarbeiten stehen zwei gleiche Tarvos TA 15-Winden zur Verfügung, die je nach Ausfahrlänge des Seils eine Zugkraft zwischen 100 kN und 66 kN bieten. Mit dem Kran kann eine Last bis zu 55 kN angehoben werden. Bei voll ausgefahrenem Kran und 30 Grad Elevation wird die Hebekraft mit 13 Tonnen angegeben.
Sobald das Bergefahrzeug an seinem Einsatzort in Position gebracht ist, übernimmt der Bergeführer das Kommando und steuert alle Bergevorgänge mit einer Bedieneinheit. Alle Funktionen werden von dort gesteuert. Sensoren überwachen Kräfte und Bewegungen im Bergesystem und verhindern nicht nur Fehlbedienungen, sondern auch Unfälle und Schäden aufgrund von Überlastung einzelner Komponenten.
Das demonstrierte RMMV in dem Steinbruch in verschiedenen Szenarien. Zu den schwierigsten Bergeaufgaben gehört das Aufrichten eines auf der Seite liegenden Fahrzeugs. Im „Roll-over“-Szenario war das Bergefahrzeug rückwärts an den Havaristen herangefahren und hatte den Kranarm mit rund 30 Grad Erhöhung auf zehn Meter voll ausgefahren. Die Seilrollen der Tarvos-Winden befanden sich außerhalb der Kontur des liegenden Lkw. Die Seile waren an obenliegenden Teilen des Fahrgestells angeschlagen. Das Hauptwindenseil war über eine Umlenkrolle in Bodennähe mittig an den Fahrzeugboden herangeführt. Durch gezieltes Einholen und Nachlassen der drei Seile wurde das Fahrzeug aufgerichtet und sanft auf seine Räder gestellt. Dabei erfolgte die Abstimmung der Seilkräfte und -bewegungen automatisch im Bediengerät. Der Bediener steuerte nur den Gesamtprozess.
Auf diese Weise kann das schwere Bergefahrzeug Unfallfahrzeuge bis etwa zum Eigengewicht bergen. Das sind nahezu alle Radfahrzeuge vom Kleinfahrzeug (z.B. Wolf) über alle Lkw bis zum Transportpanzer Fuchs und zum gepanzerten Transportkraftfahrzeug Boxer.
Im zweiten Szenario wurde der soeben geborgene Lkw über eine knapp einhundert Meter lange Steilstrecke mit rund zehn Metern Höhenunterschied zum Abschleppfahrzeug – die Zweitrolle des Bergefahrzeugs – gezogen. Dazu wurde das Seil der Hauptwinde mit der Zweitwinde an das Schleppobjekt herangebracht. Nach der erfolgreichen Bergung des Fahrzeugs aus der Gefahrenzone folgte das Abschleppen. Die Alternative Bergebrille wurde nicht gezeigt. Vielmehr wurde das rollfähige Fahrzeug über den Hubarm fest mit Abschleppfahrzeug verbunden. Beim Abschub durch schweres Gelände konnte das schwere Berge- und Abschleppfahrzeug seine Leistungsfähigkeit hinsichtlich Mobilität und Zugkraft unter Beweis stellen.
Eine Forderung der kanadischen Streitkräfte war, einen 18-Tonnen Container in 3,5 Meter Entfernung vom Fahrzeug aufzunehmen und auf der anderen Fahrzeugseite abzusetzen. Diese Aufgabe sah bei der Demonstration wenig spektakulär aus. Sie forderte aber die Krananlage zu hoher Leistung heraus. Auch hier bewährte sich die übergreifende Steuerung, die nicht nur die Sicherheitseinrichtungen (z.B. die Seitenabstützungen) überwachte, sondern den Bediener von Routinen entlastet, damit er sich auf die Aufgabe konzentrieren kann.
Das vorgestellte schwere 8×8-Bergefahrzeug ist Teil einer Familie von Unterstützungsfahrzeugen, die mit unterschiedlicher Leistungsfähigkeit und Gewichten Lösungen für eine Reihe von Einsatzaufgaben anbietet. Die Spanne reicht vom leichten 6×6-Bergefahrzeug mit 33 t Gesamtmasse und 323 kW-Dieselmotor über das mittlere bzw. schwere 8×8- bis zum 10×10 Spezial Bergefahrzeug mit 43,8 t Gesamtmasse und 397 kW-Dieselmotor.
Aufgrund ihrer Motorisierung sind alle Fahrzeuge der Bergefamilie geeignet, mit hoher Geschwindigkeit über große Entfernung an den Einsatzort verlegt zu werden. Damit wird das RMMV-Bergefahrzeug ein Kandidat für die Unterstützung der Mittleren Kräfte, die das Deutsche Heer derzeit aufbaut. Nach Aussage von Rheinmetall liegen die Beschaffungskosten deutlich unter denen eines Bergefahrzeugs auf Basis des Boxer.
Gerhard Heiming