Gefahr ukrainischer Drohnenangriffe als Ursache für den Abzug einer russischen Marine-Einsatzgruppe aus der Ostsee?
Nun ist die Begründung für die für westliche Beobachter überraschende Abreise von drei Kriegsschiffen der Nordflotte der russischen Marine aus der Ostsee vor dem St. Petersburger Tag der Marine offiziell. Die Hauptparade der Marine, die jährlich zu Ehren des Tages der russischen Marine in St. Petersburg stattfindet, wird in diesem Jahr mit kleinerem Aufgalopp ausfallen. Dies meldet die russische Tageszeitung Nowyje Iswestija unter Berufung auf Informationen aus der Stadtverwaltung von St. Petersburg auf ihrem Online-Auftritt am Vormittag des 18. Juli 2024 (Zum ersten Mal seit sieben Jahren wurde die Hauptparade der Marine in Kronstadt abgesagt – Nowje Iswestija – Nachrichten aus Russland und der Welt heute (newizv.ru).
Die Maßnahme könnte im Zusammenhang mit einer Feststellung des US-Institute for the Study of War (ISW) zu sehen sein. Wie von uns berichtet, verließen das nuklear angetriebene U-Jagd-U-Boot „Tambov“ (Victor III Klasse), der Zerstörer „Admiral Levchenko“ der Udaloy Klasse und das Landungsschiff „Ivan Gren“ am 14. Juli die Ostsee, obwohl ihre Teilnahme an der Parade zum Tag der russischen Marine in St. Petersburg angekündigt war.
In ihrer Lagebeurteilung vom 16. Juli zum Russischen Krieg in der Ukraine stellt die Washingtoner Denkfabrik fest: „ukrainische Drohnenangriffe tief im Inneren Russlands setzen den russischen Luftverteidigungsschirm weiter unter Druck und zwingen die russische Militärführung dazu, die begrenzten Luftverteidigungsmittel vorrangig zur Deckung der ihrer Meinung nach hochwertigen Ziele einzusetzen.“
Nach einer Auswertung von Satellitenbildern vom 6. Mai konzentrieren sich sieben Luftabwehrsysteme mittlerer Reichweite um die in der Oblast Nowgorod gelegene Residenz des russischen Präsidenten Wladimir Putin, was auf Lücken in der weitflächigen Luftverteidigung hinweise. Andererseits verfüge, so das ISW, das russische Militär nicht über die erforderlichen Luftabwehrsysteme, um alle kritischen Einrichtungen im Westen Russlands zu schützen.
In die Schlagzeilen geriet im Januar 2024 der Brand eines Treibstoff-Terminals in Ust-Luga, ca. 110 Kilometer westlich von St. Petersburg. Ursächlich soll ein ukrainischer Drohnenangriff gewesen sein. Wenn das zutrifft, wäre auch St. Petersburg durch ukrainische Drohnen erreichbar. Beide Städte sind ca. 1.035 Kilometer von Kiew entfernt.
Hinzu kommt, dass die Ukraine imstande zu sein scheint, erfolgreich gegen russische Luftverteidigungsstellungen vorzugehen. So soll kürzlich eine komplette S-300 Batterie in der Oblast Donezk ausgeschaltet worden sein.
Vor diesem Hintergrund und unter Einbeziehung der Lagebeurteilung des ISW erklärt sich eine Neubewertung der Sicherheitslage durch russische Dienste. Dies führte wohl zur Änderung der in der Durchführung der Parade zum Marinegeburtstag, die in der Vergangenheit stets im Beisein von Staatspräsident Wladimir Putin stattfand.
Nach Angaben der Nowye Iswestija wird die Parade zum ersten Mal seit sieben Jahren nicht auf der sonst üblichen Kronstadter Reede stattfinden. Zwölf kleinere Einheiten sollen in Paradeformation die Newa befahren. Andere Marineeinheiten, darunter auch U-Boote sollen zentrumsnah in St. Petersburg liegen und für Besichtigungen verfügbar sein. Auch die Teilnahme fliegender Einheiten wurde reduziert. Von der Beteiligung von Kriegsschiffen aus China wird weiter ausgegangen. In früheren Veröffentlichungen wurde außerdem das algerische Marineschulschiff „La Summam“ angekündigt.
Laut Nowye Istwestija hat der Kreml noch nicht über die Teilnahme des russischen Präsidenten Wladimir Putin entschieden. Demgegenüber sollen Verteidigungsminister Andrej Beloussow und der Oberbefehlshaber der Marine, Admiral Alexander Moisejew, teilnehmen.
In St. Petersburg liefen bisher die Vorbereitungen für die Flottenparade wie gewohnt. Lokale Medien wie die Online-Plattform fontanka.ru berichten über geänderte Brückenöffnungszeiten aufgrund von Probeaufstellungen, was auf ‚business as usual‘ hinweist. Auf Fotostrecken können die Einheiten „Grad“ und „Naro Fominsk“ der Buyan-M-Klasse, die „Sovetsk“ der Karakurt-Klasse, der Minensucher „Aleksandr Obukhov“ der Alexandrit-Klasse, Patrouillenboote (darunter die „Nakhimovets“ der Grachonok-Klasse), Landungsboote und andere kleine Einheiten ausgemacht werden. Außerdem befindet sich eine Korvette der Steregushchiy-Klasse „Boikiy“, der Eisbrecher-Neubau „Ivan Papanin“ sowie das U-Boot „Kronstadt“ vor Ort.
Mit der „Kronstadt“ B 868 wird ein im Januar 2024 in Dienst gestelltes konventionelles U-Boot der Lada-Klasse (Projekt 677) vorgeführt. Die „Ivan Papanin“ ist das Typschiff einer neuen Baureihe bewaffneter Eisbrecher und befindet sich zurzeit in der Erprobung.
Der Tag der Marine ist ein nationaler Feiertag in der Russischen Föderation, der traditionell am letzten Sonntag im Juli begangen wird und an dem die Seeleute der russischen Marine und ihrer Spezialeinheiten geehrt werden. 2024 wird er am 28. Juli begangen. Nach dem Tag des Sieges am 9. Mai gilt der Tag der russischen Marine (День Военно-Морского Флота) als zweitgrößter militärischer Feiertag in Russland. Die zentralen Feierlichkeiten finden seit 2017 in St. Petersburg als Flottenparade von Schiffen und fliegenden Einheiten der Ostsee-, Schwarzmeer-, Nord- und Pazifikflotte sowie der Kaspischen Flottille statt. Auch in anderen Flottenstützpunkten werden Veranstaltungen abgehalten. Der Tag der Marine wurde ursprünglich 1696 eingeführt und 1980 von der Sowjetunion abgeschafft. Präsident Putin ließ ihn wieder aufleben.
Hans Uwe Mergener und Michael Nitz