Mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 und der Invasion Russlands in die Ukraine 2022 wurde nicht nur die internationale regelbasierte Ordnung erschüttert. Es hat sich auch für unsere osteuropäischen Bündnispartner eine neueBedrohungslage ergeben.
Die NATO und die Bundesrepublik Deutschland haben darauf mit umfangreichen Maßnahmen zur Erhöhung der Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses reagiert. So wurde auf dem NATO-Gipfel 2023 in Vilnius die Aufstockung der Verteidigungsmittel beschlossen und ebenso der verstärkte Schutz der Ostflanke des Bündnisses.
Als Ausdruck der Bündnissolidarität Deutschlands, unseres festen Willens Führungsverantwortung zu übernehmen und unserer Entschlossenheit, das Bündnisgebiet zu verteidigen, hat der Bundesminister der Verteidigung am 26. Juni 2023 die Entscheidung getroffen, eine deutsche Brigade dauerhaft in Litauen zu stationieren.
„Mit dieser kriegstüchtigen Brigade übernehmen wir eine Führungsverantwortung im Bündnis hier an der NATO-Ostflanke“, so Verteidigungsminister Boris Pistorius bei der Unterzeichnung des Stationierungsabkommens zwischen Deutschland und Litauen in Vilnius im Juni 2023.
Für die Bundeswehr hat die veränderte außen- und sicherheitspolitische Lage eine Refokussierung vom Internationalen Krisen und Konfliktmanagement zurück zur Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) erforderlich gemacht. Der aus dieser Refokussierung abgeleitete Auftrag ist klar. Die Bundeswehr muss innerhalb der kommenden fünf Jahre kriegstüchtig werden. Zwar heißt das nicht, dass es dann Krieg geben wird, wie auch der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Carsten Breuer, deutlich betont, wir müssen aber zumindest darauf vorbereitet sein.
Das wird uns aber nur dann gelingen, wenn wir in der Lage sind, die Führungsfähigkeit (FüFä) der Bundeswehr für die kommenden fordernden Aufgaben sicherzustellen.
Unter FüFä versteht man die Befähigung des militärischen Führers bzw. der militärischen Führerin, deren Aufgaben und Aufträge unter den vorhandenen personellen, technischen und organisatorischen Rahmenbedingungen in jeder Lage zielgerichtet ausführen zu können. Die FüFä bezieht sich dabei aber nicht nur auf die deutschen Streitkräfte, sondern ist in Hinblick auf die Interoperabilität und die Zusammenarbeit mit Streitkräften im gesamten Bündnis zu betrachten. Diese Maßgabe gilt sowohl für den technischen als auch den operativen Bereich. Der Faktor Mensch spielt hierbei eine zentrale Rolle. Er ist das Bindeglied zwischen der Technik und den Aktivitäten auf dem Gefechtsfeld. Führungsfähige Streitkräfte sind folglich eine Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) und die damit einhergehende Fähigkeit zur Übernahme von Führungsverantwortung an der NATO-Ostflanke. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien bringen es auf den Punkt: „Eine resiliente und bruchfreie Führungsfähigkeit, sowohl im Bündnis als auch national, bilden dabei das Fundament für die Auftragserfüllung.“
Führungsfähigkeit der Bundeswehr im Kontext LV/BV und Multi-Domain Operations
Die Refokussierung auf die LV/BV sowie die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen stellen auch veränderte Anforderungen an die FüFä der Bundeswehr. Dies erhöht die Notwendigkeit einer umfassenden Weiterentwicklung der Streitkräfte, unter anderem im Hinblick auf die Steigerung der Kaltstartfähigkeit und der Interoperabilität mit unseren Bündnispartnern, um das gesetzte Ziel der Kriegstüchtigkeit erreichen zu können.
Was genau bedeutet das für die Bundeswehr?
Einfach ausgedrückt, im Bereich der FüFä wird die Bundeswehr deutlich schneller, mobiler, interoperabler und auch multidimensionaler werden müssen. Multidimensionale Operationsführung (im engl. Multi-Domain Operations (MDO)) bezeichnet das sich gegenseitig fördernde, umfassend orchestrierte Zusammenwirken von Effekten aus und in mehrere Dimensionen. Unter den Dimensionen (im englischen domains) versteht man u. a. Land, Luft, See, Weltraum und den Cyberraum. Ziel ist hierbei, die eigene Souveränität im Zusammenspiel der verschiedenen Einsatzumgebungen zu erhalten.
MDO bedingt die Koordinierung militärischer Handlungen in und über alle Einsatzräume und Dimensionen hinweg, synchronisiert mit nichtmilitärischen Aktivitäten. MDO orchestrieren alle staatlichen Machtinstrumente unter Beachtung von Schnittstellen zu anderen Akteuren, um frühzeitig einen Vorteil herzustellen oder zu halten. Die eigenen Operationen sollen dadurch schneller, präziser und zielgerichteter, also mit größerer Wirkung erbracht werden. Dies soll beim militärischen Gegner eine Überforderung oder zumindest ein Prioritätendilemma provozieren.
Folgende drei Grundsätze sind hierbei für uns handlungsleitend:
- Führung ist immer multinational mit unseren Partnern der NATO und der EU zu denken. Dabei bedeutet LV/BV stets ein Zusammenwirken mit unseren Partnern. DEU ist dabei fest in vorhandene Strukturen eingebettet und übernimmt dort eine Führungsrolle.
- Führung ist immer dimensionsübergreifend zu denken. Die Wirkungserbringung aus einer Dimension allein reicht für die erfolgreiche Gefechtsführung in der Zukunft nicht mehr aus.
- Führung muss zukünftig auch kooperativ mit unseren zivilen Partnern gedacht werden. Diese werden aktiver eingefordert, um gemeinsam mit der Bundeswehr die gesamtstaatliche Verteidigung sicherzustellen. Die Zusammenarbeit ziviler Einheiten (z. B. „Blaulicht-Organisationen“) mit der Bundeswehr wird stärker in den Fokus rücken. „Blaulicht-Organisationen“, andere Ressorts sowie die Industrie spielen eine wichtige Rolle und müssen engmaschig vernetzt werden.
Mit der Zeitenwende und der Refokussierung auf die LV/BV muss sich die Bundeswehr zum Teil neuen, aber auch altbekannten Herausforderungen stellen. Wie sehen diese im Detail aus?
Herausforderungen für die Führungsfähigkeit der Bundeswehr
Im Rahmen einer ersten architekturbasierten Auswertung der FüFä unter den Bedingungen der LV/BV im Jahr 2022 ergeben sich drei wesentliche Herausforderungen, denen wir uns stellen.
Erstens, die Notwendigkeit einer operativen Gesamtbetrachtung. Welche operativen Abläufe finden auf dem Gefechtsfeld statt. Hinzu kommen die Forderungen an eine gesicherte Kommunikation mit unseren multinationalen Partnern und anderen Ressorts, die wesentlich für eine erfolgreiche Auftragserfüllung ist.
Zweitens, die Notwendigkeit einer dimensionsübergreifenden Durchgängigkeit der Systeme. Isolierte Projekt- und Plattformbetrachtungen beeinträchtigen die MDO-Fähigkeit der Streitkräfte.
Drittens, die Notwendigkeit des Wechsels des Mindsets vom Internationalen Krisenmanagement zur LV/BV. Wir wollen beantworten: „Was benötigen wir, um auf dem Gefechtsfeld erfolgreich zu führen?“ und dies einer Realitätsprüfung unterziehen.
Mit der strikten Anwendung der Methode Architektur, haben wir über die Operationelle Architektur Führungsfähigkeit der Bundeswehr (OpArch FüFä Bw) begonnen, die hier beschriebenen Herausforderungen konsequent anzugehen.
Die Methode Architektur aus operationeller Sicht
Die Vorgabe zur Erstellung von Architekturen im Geschäftsbereich BMVg ist nicht neu.
Architekturen wurden bereits überwiegend auf der Projekt-/Programmebene erstellt. Um eine Gesamtbetrachtung zu ermöglichen, wurde durch eine Leitungsentscheidung die Einführung eines Enterprise Architekturmanagements beschlossen. Dieser methodische Ansatz stellt die konsequente Anwendung von Industrie- und Bündnisstandards dar. Hierbei werden bereits bestehenden Architekturmodelle in eine bis Ende 2025 zu entwickelnde digital verfügbare Enterprise Architektur Bundeswehr (EABw) zusammengeführt.
Mit der operationellen Architektur wird eine Methode beschrieben, welche Prozesse, Strukturen, Verfahren und Fähigkeiten in ein digital auswertbares Modell überträgt und damit eine abstrakte Abbildung der Realität schafft. Als „Digitaler Zwilling“ bietet es eine übergreifende Perspektive über die Daten- und Informationsaustauschbeziehungen zwischen den unterschiedlichen Operateuren – von der Wehrverwaltung bis hin zum Soldaten oder der Soldatin auf dem Gefechtsfeld. Damit ist das Modell als „Sprachrohr der Operateure“ konzipiert.
Die OpArch FüFä Bw beschreibt und definiert, als Grundlage für alle Ableitungen, die Elemente und Verfahren in einer Organisation auf fünf Ebenen:
- Erstens definiert sie die lage- und auftragsbezogenen Grundstrukturen. Dies umfasst u. a. die Führungsorganisation wie Gefechtsstände von der taktischen bis zur strategischen Ebene oder sonstige Elemente, welche sich auf dem Gefechtsfeld befinden und Daten austauschen müssen.
- Zweitens definiert sie die Regeln, welche das dynamische Zusammenspiel aller Komponenten auf dem Gefechtsfeld oder im Rahmen von Operationen koordinieren. Ein Beispiel hierfür sind die Führungsverfahren und -prozesse (z. B. der multinationale Military Decision Making Process oder der deutsche Führungsprozess der Landstreitkräfte).
- Drittens beschreibt die Architektur die operationellen Abläufe oder militärischen Geschäftsprozesse der Bundeswehr, insbesondere die Operational und Enabling Swimlanes des Federated Mission Networking, welche wesentlich für die Wirkungserbringung im Rahmen der Operationsführung sind.
- Viertens stellt sie Informationsaustauschbeziehungen dar. Dabei wird in den sogenannten Information Exchange Requirements dokumentiert in welcher Quantität (z. B. Menge der auszutauschenden Daten zwischen den Führungseinrichtungen) und Qualität (z. B. als Kernfähigkeit, auch unter widrigsten Bedingungen, aufrecht zu erhaltende IT-Services) Informationen miteinander ausgetauscht werden müssen.
- Fünftens definiert die OpArch FüFä Bw die Sicherheitsdomänen (z. B. NATO SECRET, VS – NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH, EU SECRETE) in denen die Informationen miteinander ausgetauscht werden.
Durch die systematische Auswertung der OpArch FüFä Bw wird es möglich, konkrete Fragestellungen schneller und zielgerichteter zu beantworten. Aus der Verknüpfung mit anderen Architekturen lässt sich auch ermitteln, welche Fähigkeiten und Systeme vorhanden sind. Daraus kann im Weiteren abgeleitet werden, wo Defizite bestehen und was noch zu entwickeln ist bzw. beschafft werden muss. Dabei können die relevanten Anforderungen aus der OpArch beigestellt werden.
Die OpArch FüFä Bw ist auf Grund ihrer operativen Gesamtbetrachtung ein wichtiges Kernelement der EABw und daher aus planerischer Sicht die erforderliche belastbare Basis für die Fähigkeitsentwicklung der Bundeswehr.
Mit der OpArch FüFä Bw lassen sich zielgerichtet Lücken im Bereich der FüFä identifizieren, sodass diese schnell und effizient geschlossen werden können. Als Anwendungsbeispiel sei hier die Identifikation von Schnittstellenverlusten aufgrund fehlender Interoperabilität zwischen unterschiedlichen Systemen oder aufgrund von Ablagen von benötigten und tatsächlich vorhandenen Fähigkeiten genannt.
Dies stellt bereits eine Teilmenge der möglichen Analysegegenstände dar, da die OpArch FüFä Bw operationelle Prozesse ganzheitlich abbildet. Ebenfalls denkbar sind Analysefragen zu möglichen Ineffizienzen im Informationsfluss oder der Informationsverarbeitung, ebenso wie im deutschen bzw. multinationalen Führungsprozess oder in der Führungsorganisation.
Die OpArch FüFä Bw unterstützt somit die Bundeswehr als ein Mittel auf dem Weg zur vollumfänglichen Führungsfähigkeit, indem sie die zielgerichtete Ableitung von Bedarfen, die effiziente Nutzung von Ressourcen sowie die zielgerichtete Fähigkeitsentwicklung ermöglicht.
Praxisbeispiele: Division 2025 und Panzerbrigade 45
Die Division 2025 ist einer der Eckpfeiler der LV/BV. Dabei stellt Deutschland für die NATO ab 2025 eine einsatzbereite Heeresdivision an der Ostflanke des Bündnisses. Kern dieser Division ist die 10. Panzerdivision aus dem bayerischen Veitshöchheim, welche zukünftig auch die Panzerbrigade 45 in Litauen führen wird.
Mithilfe der OpArch FüFä Bw konnten in einem ersten Anwendungsfall, die zunächst geschätzten Bedarfe zur FüFä der Division 2025 validiert und als Grundlage für eine Reihe von Sofortmaßnahmen zu deren Verbesserung genutzt werden. Im Folgeschritt stand zu Beginn des Jahres 2024 die Modellierung der Panzerbrigade 45 im Fokus. Neben der Ableitung der operativen Bedarfe für die FüFä der Brigade, wurde auch ein erstes Funkkonzept für die Brigade erstellt. In Zukunft kann das Modell der Panzerbrigade 45 zudem als eine Art Blaupause für die Modellierung weiterer Großverbände des Heeres auf Brigade- und Divisionsebene genutzt werden. Noch in diesem Jahr ist die sukzessive Erweiterung des Modells um weitere Anteile der LV/BV in allen Dimensionen vorgesehen.
Fazit
Durch die OpArch FüFä Bw und ihre vom Kernauftrag der Bundeswehr abgeleitete operationelle Bedarfsermittlung wird es zukünftig einfacher möglich sein, zielgerichtet das bereitzustellen, zu beschaffen oder zu entwickeln, was tatsächlich für eine erfolgreiche Auftragserfüllung notwendig ist. Somit leistet die Architektur einen Beitrag für die strategische Steuerungsfähigkeit in der Beschaffung und Rüstung.
Durch konsequente Anwendung der Methode Architektur wird es uns gelingen, die Komplexität des Themas „FüFä Bw“ verständlich und geordnet zu beschreiben. Darüber hinaus werden wir durch den digitalen Ansatz in der Lage sein, einzelne Aspekte oder das Gesamtsystem der FüFä Bw zielgenau zu analysieren. Als „Digitaler Zwilling“ dient die OpArch FüFä Bw hierbei unter anderem als Grundlage für eine Reihe von Wargamings, mit denen die bisherigen Annahmen für die FüFä unter LV/BV-Bedingungen überprüft werden können. Bis Ende des Jahres werden wir z. B. die kriegstaugliche FüFä der Panzerbrigade 45 in einem Wargaming überprüfen.
Letztendlich wird der Enterprise Architektur Ansatz ein Aufbrechen von Stove Pipes ermöglichen und die Interoperabilität im nationalen sowie besonders im multinationalen Umfeld weiter fördern.
Projektteam Operationelle Architektur Führungsfähigkeit der Bundeswehr.