Print Friendly, PDF & Email

Eine Million Artilleriegranaten soll die europäische Rüstungsindustrie innerhalb von 12 Monaten für die Ukraine produzieren können. Um dieses Ziel zu erreichen, hat die EU-Kommission nun eine weitere Initiative auf den Weg gebracht. Zudem ist der EU-Binnenmarktkommissar, Thierry Breton, im Rahmen seiner Rüstungstour durch die Union am Donnerstag zu Besuch bei Rheinmetall im niedersächsischen Unterlüß gewesen, um sich einen Eindruck von den Fertigungskapazitäten geben zu lassen.

Um das Ziel der Lieferung von einer Million Artilleriegranaten im Zeitraum von zwölf Monaten an die Ukraine zu erreichen, plant die EU, drei Wege zu nutzen.

Erstens sollen die Mitgliedstaaten der Ukraine weitere Munition aus ihren Beständen liefern. Zweitens sollen die Mitgliedstaaten gemeinschaftlich neue Munition bei der Industrie bestellen, um diese an die Ukraine zu liefern, und drittens will die Kommission Anreize für die Rüstungsindustrie schaffen, ihre Produktionskapazitäten langfristig auszubauen (ES&T berichtete).

Zur Umsetzung des dritten Wegs hat die Kommission nun einen Gesetzesvorschlag ausgearbeitet mit dem Namen „Act in Support of Ammunition Production“ (ASAP). Die Abkürzung ASAP, die gemeinhin für „As Soon As Possible“ steht, dürfte kein Zufall sein. Es soll Geschwindigkeit suggerieren, die wie der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik der EU, Josep Borrell, betont, von essenzieller Bedeutung ist. „Wir müssen die Munitionslieferung an die Ukraine beschleunigen. Zeit ist von entscheidender Bedeutung.“

Geld für Munitionshersteller

Der Vorschlag der Kommission sieht vor, Haushaltsmittel in Höhe von 500 Millionen Euro bereitzustellen, Lieferketten zu überwachen und einen befristeten Rechtsrahmen einzuführen, um die Produktion von Artilleriemunition in Form von Granaten und Raketen, einschließlich ihrer Vorprodukte, zu unterstützen. Finanzielle Unterstützung für Unternehmen von bis zu 40 Prozent der Kosten sollen durch ASAP übernommen werden, insofern mindestens eins der folgenden Kriterien durch den entsprechenden Munitionshersteller erfüllt wird:

  • Optimierung, Erweiterung, Modernisierung, Verbesserung oder Wiederverwendung bestehender Produktionskapazitäten;
  • Schaffung neuer Produktionskapazitäten;
  • Aufbau grenzüberschreitender Industriepartnerschaften, auch im Rahmen öffentlich-privater Partnerschaften, um beispielsweise den Zugang zu strategischen Komponenten oder Rohstoffen zu sichern oder zu reservieren;
  • Aufbau und Bereitstellung von reservierten Kapazitäten für die Herstellung von Spitzenleistungen;
  • Erprobung oder Wiederaufbereitung (zur Beseitigung der Veralterung) von Prozessen, um vorhandene Munition und Flugkörper nutzbar zu machen;
  • Umschulung und Höherqualifizierung der entsprechenden Arbeitskräfte.

Zusätzlichen Kostenübernahmen in Höhe von jeweils zehn Prozent können laut dem Vorschlag der Kommission zudem gewährt werden, insofern die folgenden beiden Kriterien erfüllt werden:

  • Schaffung neuer grenzüberschreitender Kooperationen zwischen Herstellern
  • Priorisierung von Bestellungen durch eine Staatengruppe von mindestens drei Mitgliedstaaten bzw. assoziierten Mitgliedern oder durch einen Mitgliedstaat der die Bestellung unmittelbar an die Ukraine weiterleitet.

Insgesamt könnten Munitionshersteller durch ASAP also bis zu 60 Prozent der Kosten der Munitionsherstellung erstattet bekommen.

Zudem soll die Kommission unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit bekommen, in die Priorisierung von Bestellungen bei den Munitionsherstellern eingreifen zu können. Somit könnte die Kommission Herstellern vorgeben, welche Aufträge sie umzusetzen haben, vorausgesetzt die beteiligten Mitgliedstaaten sind einverstanden. Bei Zuwiderhandlung des betroffenen Unternehmens, ohne berechtigte Begründung, kann dies zu Strafzahlungen führen.

Der Vorschlag der Kommission ist auf eine begrenzte Zeit ausgelegt und soll nicht länger als bis zum 30. Juni 2025 Gültigkeit haben.

Erste Kritik an ASAP

Nun hofft die Kommission auf eine zügige Verabschiedung des Gesetzesvorschlags. Dies bedarf jedoch noch der Zustimmung durch den Rat und das Europäische Parlament. Zumindest aus letzteren hört man jedoch bereits Kritik an ASAP, zum Beispiel von Michael Gahler, dem außenpolitischen Sprecher der EVP-Fraktion. Gahler sagt: „Der Vorstoß der Kommission ist ein wichtiges Signal, dass wir die „Zeitenwende“ nur gemeinsam bewältigen können. Deshalb müssen wir einerseits Maßnahmen auf der europäischen Ebene bündeln, andererseits aber auch unser Regelwerk an die Krise anpassen. Da aber die europäische Bündelung von Aufträgen zu lange auf sich hat warten lassen, erscheinen Zwangsmaßnahmen der Kommission gegenüber der Industrie als überzogen.“

Zudem kritisiert Gahler die Finanzierung von ASAP. Dazu will die Kommission nämlich 260 Millionen Euro aus dem Budget des Verteidigungsfonds für das Jahr 2024 sowie weitere 240 Millionen Euro aus dem geplanten Budget für das derzeit im Gesetzgebungsverfahren befindliche EDIRPA-Programm (European Defence Industrial Reinforcement through common Procurement Act) umschichten.

Dazu sagt Gahler: „Ebenso kann es nicht der richtige Weg sein, dass dieses Maßnahmenpaket zu Lasten ohnehin unterfinanzierter Instrumente wie dem Verteidigungsfonds oder dem geplanten Instrument zur Förderung der gemeinsamen Beschaffung geht. Anstatt durch Umverteilung andere Instrumente in deren Wirksamkeit zu schwächen, müssen wir dringend unsere Prioritäten überdenken beziehungsweise an die Erfordernisse der Krise anpassen.“

Ob es für ASAP also zu einem zügigen Durchmarsch durch das europäische Gesetzgebungsverfahren kommt, so wie es sich die Kommission wünscht, ist offen. Dafür müsste es deutlich anders laufen als bei EDIRPA, das eigentlich bereits seit letztem Dezember in Kraft sein sollte, nun aber voraussichtlich erst im Ende Juni kommen wird (ES&T berichtete).

Laut Kommission sollen sich sowohl EDIRPA als auch ASAP, sollten sie beiden einst in Kraft treten, gegenseitig ergänzen. So soll EDIRPA auf der Nachfrageseite wirken und die Mitgliedstaaten zur gemeinschaftlichen Beschaffung von Munition animieren und ASAP auf der Angebotsseite wirken, indem es die Hersteller dazu animiert ihre Produktion hochzufahren. Offen ist aber, ob die Kommission beide Instrumente ausreichend finanzieren kann, da sie bereits plant, Gelder vom einen zum anderen zu schieben.

Kommissar auf Rüstungstour

Um sich einen Eindruck von den europäischen Fertigungskapazitäten zu verschaffen, ist der Binnenmarktkommissar Thierry Breton auf Rüstungstour durch die Union. Am Donnerstag machte er Halt bei Rheinmetall im niedersächsischen Unterlüß. Dort ließ er sich vom Vorstandschef des deutschen Rüstungskonzerns Armin Papperger die Produktionsstätte zeigen. Von deutscher Regierungsseite war Staatssekretär Benedikt Zimmer aus dem Verteidigungsministerium ebenfalls zugegen. Rheinmetall teilte im Anschluss an den Besuch mit, dass man bereit sei, die Fertigungskapazitäten weiter massiv hochzufahren, um die die europäischen Staaten bestmöglich zu unterstützen.

 

Wie hoch die derzeitigen Fertigungskapazitäten in der EU für Artilleriemunition ist, ist unklar. Während die estnische Regierung laut Medienberichten von einer Kapazität im Bereich von 300.000 Geschossen pro Jahr ausgeht, sagt der nach eigenen Angaben größte Munitionshersteller der EU, Rheinmetall, dass man derzeit eine Kapazität von bis zu 450.000 Geschossen pro Jahr habe.

Allein diese Diskrepanz in den Zahlen zeigt die unübersichtliche Lage. Zudem zeigen sie aber auch: Es muss noch viel passieren, damit die Mitgliedstaaten der EU in der Lage sind, der Ukraine eine Million Artilleriegeschosse bis zum März nächsten Jahres zu liefern.

Ole Henckel