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Materialien, die unter normalen Umgebungsbedingungen und hier insbesondere bei Raumtemperatur keinen elektrischen Widerstand aufweisen, gelten vielen als der heilige Gral der Festkörperphysik. Nach der Entdeckung des Phänomens der sog. Supraleitung an Metallen nahe am absoluten Temperatur-Nullpunkt vor mehr als 100 Jahren erlebte die Suche nach derartigen Werkstoffen mit den sog. Hochtemperatursupraleitern auf keramischer Basis in den 1980er Jahren einen regelrechten Hype. Dieser ist inzwischen allerdings einer deutlichen Ernüchterung gewichen. Aktuell stehen bestimmte wasserstoffhaltige Substanzen im Mittelpunkt des Interesses, erst recht nachdem eine derartige Verbindung synthetisiert werden konnte, die noch bei 15 °C supraleitend ist.

Allerdings gelang das nur unter extrem hohem Umgebungsdruck, der eine praktische Einsetzbarkeit ausschließt. Trotzdem haben die Bemühungen um diese Materialklasse der Suche nach praktikablen Raumtemperatursupraleitern wieder neuen Auftrieb gegeben.

Supraleiter verlieren ihren elektrischen Widerstand unterhalb einer für sie typischen sog. Sprungtemperatur vollständig und werden ideale Leiter. Die bereits seit 1911 bekannten „konventionellen“ metallischen Supraleiter besitzen so niedrige Sprungtemperaturen, dass eine aufwändige Kühlung mit flüssigem Helium (Siedetemperatur 4,2 K; 0 K = –273,15 °C) erforderlich ist. Sie sind im Moment immer noch die einzigen großtechnisch eingesetzten Supraleiter und werden etwa in Kernspintomographen zur Erzeugung hoher Magnetfelder genutzt. Das am häufigsten verwendete Material sind immer noch Niob oder bestimmte Niob-Legierungen, welche aufgrund ihrer ausgezeichneten Verformbarkeit die problemlose Herstellung von Drähten auch in einer für den Magnetbau erforderlichen Länge von mehreren Kilometern erlauben.

Die wichtigsten Vertreter der keramischen Hochtemperatursupraleiter basieren bis heute auf sogenannten Cupraten (Kupferoxiden). Nachdem man zunächst Sprungtemperaturen über 30 K realisiert hatte, fand man innerhalb kurzer Zeit zahlreiche Stoffe, die bereits oberhalb der Siedetemperatur des flüssigen Stickstoffs (77 K) supraleitend werden. Diese zunächst rasante Entwicklung stagniert jedoch schon seit langem. Der derzeit höchste Wert für die Sprungtemperatur liegt für diese Materialklasse seit 1994 bei ungefähr 138 K. Ein weiteres wesentliches Problem für die Anwendung dieser HTSL ist die Tatsache, dass beim Supraleitungseffekt das äußere Magnetfeld und die zu tragende Stromdichte eine ebenso wichtige Rolle spielen wie die Temperatur und ebenfalls einen kritischen Wert nicht überschreiten dürfen. Kommt eine der drei Größen in die Nähe des für sie maximalen Wertes, müssen die beiden anderen gegen Null gehen. Trotzdem können Hochtemperatursupraleiter auf keramischer Basis inzwischen als Strombegrenzer in Kraftwerken praktisch eingesetzt werden. Als Leiter für elektrischen Strom stehen sie an der Schwelle zur industriellen Fertigung. So gibt es für den Stromtransport in regionalen Netzen in Deutschland bereits seit Jahren ein erfolgreiches Pilotprojekt. Das wichtigste heute etablierte Anwendungsfeld für Cuprate ist die hochgenaue Messung von Magnetfeldern z. B. im menschlichen Gehirn oder in der zerstörungsfreien Materialprüfung.

Hier werden sie für sogenannte SQUIDs verwendet, welche die Magnetfeldabhängigkeit des bei Supraleitern auftretenden quantenmechanischen Josephson-Effektes nutzen.

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Neuen Schwung hat die Suche nach Raumtemperatursupraleitern erhalten, als Anfang dieses Jahrtausends hohe Sprungtemperaturen für bestimmte, während des Abkühlens unter Laborbedingungen stark komprimierbare Wasserstoffverbindungen (Hydride) theoretisch vorhergesagt wurden. Die Bemühungen um die Synthese derartiger Materialien führte in verschiedenen Zwischenschritten zum Erfolg, mit dem bisherigen Höhepunkt eines im Jahr 2020 entdeckten Materials mit einer Sprungtemperatur von 288 K, also von 15 °C.

Auch wenn der genaue kristalline Aufbau dieses Werkstoffs noch nicht endgültig aufgeklärt ist, kann man hier wieder von einem metallischen Supraleiter sprechen. Nachdem davor Verbindungen aus zwei Elementen untersucht worden waren, ist er das erste in diesem Zusammenhang untersuchte dreielementige Hydrid. Seine Herstellung erfolgt zunächst durch Einstreuung von Kohlenstoff in einen mit Methan und Schwefelwasserstoff gefüllten Probenbehälter. In einer Diamantpresse entsteht dann daraus bei einem Druck von 2,7 Millionen Bar (!) das supraleitende Metall aus Kohlenstoff-, Schwefel- und Wasserstoffatomen.

Dass man genau dieses Material in keiner praktischen Anwendung einsetzen kann, ist offensichtlich. Allerdings steht die Forschung an Hydriden aus drei Elementen erst am Anfang, und in der nächsten Zeit sind hier weitere Rekorde zu erwarten, womöglich auch bei geringeren Umgebungsdrucken. Eine Unsicherheit bezüglich der weiteren Entwicklung gibt es auch im Hinblick auf die Supraleitung allgemein. Bis heute ist dieses Phänomen nicht in allen seinen Ausprägungen umfassend theoretisch beschrieben. Insbesondere gibt es keine Theorie, welche die Existenz von Raumtemperatursupraleitern ausschließen würde. Wenn diese aber auch praktisch einsetzbar sein sollen, müssen sie außerdem eine Reihe weiterer Eigenschaften in sich vereinen. Dazu gehören gleichzeitig hohe kritische Stromdichten und Magnetfelder, geeignete Herstellungsverfahren und adäquate mechanische Eigenschaften. Nicht zuletzt müssen sie natürlich auch unter weiteren normalen Umgebungsbedingungen (z.B. unter normalem Umgebungsdruck) funktionieren.

Das große Interesse an solchen Materialien, welche die moderne Technik tiefgreifend verändern würden, zeigen allein die fünf Nobelpreise, die im Zusammenhang mit diesem Themenkomplex bisher vergeben worden sind. Bis zur praktischen Einsetzbarkeit von Raumtemperatursupraleitern wird sicher noch der eine oder andere diesbezügliche Nobelpreis dazu kommen.

Jürgen Kohlhoff