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Am 16. November 2020 berichtete die Missile Defense Agency, eine Behörde des US-Verteidigungsministeriums, von einem spektakulären Erfolg bei einem Testschießen im Seegebiet vor Hawaii: „Wir haben demonstriert, dass ein Aegis BMD System, ausgerüstet mit SM-3 Block 2A-Flugkörpern, ein ICBM-Ziel (Intercontinental Ballistic Missile) besiegen kann. Das ist ein Schritt in dem Prozess der Untersuchungen zur Machbarkeit als Teil einer Architektur für eine gestaffelte Verteidigung der Heimat“, erklärte Vizeadmiral Jon Hill, Direktor der Behörde. „Dies war ein unglaublicher Erfolg und ein kritischer Meilenstein für das Aegis BMD SM-3 Block 2A-Programm.“

Es handelte sich bei dem Schuss vor Hawaii um Flight Test Mission 44, einen von mehreren Testversuchen mit dem neuen Standard Missile 3 Block 2A – der dritten Ausbaustufe dieses Abwehrflugkörpers gegen ballistische Raketen nach den Blöcken 1A und 1B. Der Test wurde von einem der derzeit fast 50 verfügbaren Aegis BMD-Schiffe der U.S. Navy durchgeführt. BMD steht dabei für Ballistic Missile Defense.

Relativer Erfolg

Obwohl der Abfangflugkörper vorrangig gegen Mittelstreckenraketen (MRBM und IRBM) entwickelt wurde, hat die Missile Defense Agency nun mitgeteilt, er könne auch gegen Interkontinentalraketen operieren. Dies ist aus zwei Gründen kritisch.

Erstens: Obwohl der Test unter realistischen Bedingungen durchgeführt wurde, folgte er einem sekundengenauen Drehbuch und wurde monatelang vorbereitet und geübt. Die Raketenabwehr ist derartig komplex in Bezug auf die Sensor-Effektor-Kette, auf den Datenfluss und auf das Timing, dass sich die Frage stellt, ob unter realistischen taktischen Bedingungen ein solcher Abfangvorgang erfolgreich wiederholt werden kann. Auch ist nicht klar, inwieweit das Testziel mit einer realen ballistischen Rakete vergleichbar ist.

Tatsächlich spricht der BMD-Jahresbericht 2020 an den US-Kongress zum SM-3 Block 2 auch nur von einer Fähigkeit „gegen eine einfache Interkontinentalrakete“.

Dilemma für NATO-Europa

Zweitens und viel wichtiger: Die USA bringen damit die NATO in ein weiteres Dilemma. SM-3 Block 2A-Abwehrflugkörper sind auch für die beiden landgestützten Aegis-Anlagen (Aegis Ashore) Rumänien und Polen vorgesehen. Derzeit sind SM-3 Block 1A- und 1B-Abwehrflugkörper dort stationiert bzw. werden, im Falle Polens, ab 2022 stationiert werden. Diese beiden Anlagen gehören zum European Phased Adaptive Approach (EPAA) und sind somit Teil des US-amerikanischen Beitrags zur Raketenabwehr in NATO-Europa (NATO BMD). Ihre Errichtung hatte erhebliche russische Proteste zur Folge trotz der wiederholten Versicherung aus der NATO, dass die Raketenabwehr der Allianz nicht gegen Russland, sondern gegen das iranische Raketenpotenzial gerichtet sei. So lassen sich aus der Lage der Basen und des dazugehörigen Sensors auch faktisch eine Ausrichtung gegen eine Bedrohung aus dem Südwesten ableiten.

Abschuss einer SM-3 von einem amerikanischen Aegis-Schiff (Foto: U.S. Navy)

Und genau hier fängt das Problem aus Moskauer Sicht an: Das iranische Raketenprogramm folgt Teherans Hegemonialanspruch im arabischen Raum. Raketen, welche Mitteleuropa oder die USA erreichen könnten, gehören nicht dazu. Mit seinen Raketen bis 2.500 km Reichweite könnte der Iran jedoch Südeuropa erreichen. Hinzu kam, dass es aufgrund des Atom-Abkommens mit dem Iran jahrelang gar keine Bedrohung für Europa aus dieser Richtung gab. Insofern kann die im November durch die Trump-Administration mitgeteilte Abwehrfähigkeit des SM-3 Block 2 gegen Interkontinentalraketen in Verbindung mit dessen Stationierungsabsichten in NATO-Europa als eine weitere Provokation in Richtung Russland gewertet werden.

Essenziell für die Sicherheit Europas: Das strategische Gleichgewicht

Die neun Atomwaffenstaaten (USA, Russland, China, Großbritannien, Frankreich, Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea) verfügten nach einer Studie des deutschen Online-Pertals für Statistik, Statista, aus dem Januar 2020 über etwa 13.000 Atomwaffen. Das ist zwar weniger als ein Viertel der Atomwaffen, über die sie auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges verfügten. Es bedeutet aber immer noch einen Overkill für die Welt, d. h. die Atommächte waren und sind in der Lage, die Erde gleich mehrfach zu zerstören. 90 Prozent der Atomwaffen besitzen die USA und Russland, etwa jeweils 1.000 sind auf beiden Seiten in ständiger Alarmbereitschaft und könnten ihre Ziele in wenigen Minuten erreichen. Bei diesen ständig einsatzbereiten Atomwaffen handelt es sich fast ausschließlich um solche, die mittels ballistischer Raketen aus U-Booten oder stationären unterirdischen Abschussrampen verschossen werden.

Die Sicherheit der Menschheit vor einem Atomkrieg, aber insbesondere die Sicherheit Europas basiert seit 70 Jahren auf dem Gleichgewicht der Kräfte und dem Prinzip der Abschreckung. Jede Seite sichert ihre Zweitschlagfähigkeit, um den Gegner von einem Erstschlag abzuschrecken. Durch die Art, in der die jüngsten Testergebnisses auf Interkontinentalraketen focussiert kommuniziert wurde, wächst das Risiko, dass die Stationierung von SM3 Block 2-Abwehrraketen zu einem strategischen Boomerang wird: Der Flugkörper, so eine Meinung, trägt nicht zu mehr Sicherheit in NATO-Europa, sondern zu noch mehr Provokation gegenüber Russland bei. Legal ist die Stationierung aber allemal, da der ABM-Vertrag, der eine solche Stationierung verhindert hätte, bereits 2002 ersatzlos ausgelaufen ist.

Zeit für Deeskalation

Nicht noch mehr Säbelrasseln, sondern Deeskalation der angespannten Lage zwischen NATO und Russland ist gefragt. In den vergangenen fünf Jahren hat Russland immer mehr und modernere Raketensysteme insbesondere im Bereich der ballistischen Mittelstreckenraketen und der Marschflugkörper mittlerer Reichweite gegen den Westen in Stellung gebracht. Die USA haben daraufhin 2019 den Vertrag über die Abschaffung nuklearer Interkontinentalraketen gekündigt. Das Atom-Abkommen mit dem Iran stellte die abgelöste US-Administration ebenso infrage wie das vertrauensbildende Abkommen Open Skies. Und sollten die USA und Russland keine Einigung zur Erneuerung des am 5. Februar 2021 auslaufenden NEW-START-Vertrages erzielen, wird es zum ersten Mal seit 50 Jahren keinerlei Vereinbarung zur Limitierung der Atomwaffenarsenale beider Seiten geben. All diese Abkommen dienten auch und insbesondere der Sicherheit Europas.

Für mehr Sicherheit in Europa müssen die 30 Mitgliedsnationen der NATO gleich mehrere wesentliche Hindernisse überwinden: Die Solidarität innerhalb der NATO muss in ihrer Gesamtheit – auch der transatlantischen – wieder sichtbar werden. Die NATO muss Washington und Moskau dazu bewegen, gekündigte und abgelaufene Rüstungskontrollvereinbarungen wiederherzustellen. Neue diplomatische Gespräche zwischen der NATO und Russland müssen die aktuelle Eiszeit überwinden helfen.

Konfrontative Rhetorik über hypersonische Waffen auf der einen und Abwehrwunderwaffen auf der anderen Seite muss durch vertrauensbildende Maßnahmen abgelöst werden. Die Welt braucht keine Rückkehr in den Kalten Krieg. Einzig die US-amerikanische Wirtschaft würde davon profitieren (ca. 36 Prozent der Waffenexporte weltweit), den sicherheitspolitischen Tribut würde das noch immer von US-amerikanischem Schutz abhängige Europa zahlen. Stattdessen könnten die USA einen neuen ABM-Vertrag anbieten, im Gegenzug könnte Russland zu einem Vertrag zur Begrenzung der Anzahl hypersonischer Waffen motiviert werden.

Oder doch SM-3 Block 2 für Europa?

Aber wäre eine Stationierung von Abwehrflugkörpern SM3 Block 2 in Europa nicht doch sinnvoll? Klare Antwort: derzeit nicht. Die Anschaffung der pro Stück ca. 25 Millionen US-Dollar teuren Abwehrraketen allein genügt nicht. Deren Wirksamkeit ist in entscheidendem Maß abhängig von Sensornetzwerken und einem entsprechend befähigten Gefechtsführungssystem. Und genau das bleiben die Europäer seit der Gründung der NATO-Raketenabwehr vor elf Jahren schuldig. Einzig die Niederlande rüsten derzeit vier Fregatten mit Sensoren zur Frühwarnung vor und Zieleinweisung von Abwehrraketen gegen ballistische Ziele aus. Ein erster Funktionsnachweis in See soll dazu im Mai 2021 im Rahmen der Übung „Formidable Shield“ im Nordatlantik erfolgen.

Ein deutscher Sensorbeitrag wird auch diesmal wieder nicht dabei sein, obwohl die Deutsche Marine hier bereits 2006 und 2013 entsprechende Initiativen vorgelegt hat.

Deutschland verpasst auch beim maritimen Sensorbeitrag zur Raketenabwehr gegenüber der NATO zugesagte Zeitlinien – und eine Gelegenheit, mit relativ geringem finanziellem Aufwand dem Bündnis solidarisch eine signifikante strategische Fähigkeit bereitzustellen.
Die sicherheitspolitische Situation in Europa in Bezug auf Raketen und Flugkörper war seit 50 Jahren nicht mehr so wenig vertraglich geregelt wie heute. Die Sicherheitsvorsorge in NATO-Europa spiegelt diese Tatsache jedoch nicht wider. Auch die Kommunikation zum jüngsten Raketenabwehrtest der USA trägt nicht zur Entspannung bei. Bereits jetzt entwickelt Russland immer modernere und schnellere Raketen und Flugkörper – zum Teil mit großer Reichweite. Hier haben die Russen derzeit die Nase vorn, der hypersonischen Bedrohung hat die NATO derzeit nichts entgegenzusetzen. Auf lange Sicht würde die NATO ein Wettrüsten mit Russland zweifelsohne gewinnen können – aber zu welchem Preis?

Fregattenkapitän Andreas Uhl leistet derzeit Dienst in der Luftverteidigung, Schwerpunkt Raketenabwehr. Derzeit leistet er Dienst im NATO Allied Command Transformation im Bereich Warfare Development.