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Das Auswärtige Amt hat im August erstmals „Leitlinien zum Indo-Pazifik“ der Bundesregierung herausgegeben, die die alten Asien-Konzepte ersetzen sollen. Dabei will die Bundesregierung die tektonischen Machtverschiebungen durch den Aufstieg Chinas als neue globale Wirtschafts- und Militärmacht berücksichtigen. Zugleich nehmen die Leitlinien eine veränderte Interessendefinierung der deutschen und EU-Wirtschafts-, Außen- und Sicherheitspolitik in diesem Raum vor.

Dabei reflektiert das Konzeptions- und Strategiepapier die qualitative Veränderung der Beziehungen Deutschlands und der EU zur Volksrepublik China seit 2019. So hatten sowohl der französische Präsident Manuel Macron als auch der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik der EU und Vizepräsident der Europäischen Kommission, Josep Borrell, seit 2019 wiederholt konstatiert, dass die Ära der Naivität der EU in den Beziehungen zu China vorbei sei und die bilateralen Beziehungen künftig an dem Prinzip der Reziprozität ausgerichtet sein sollen.

Zugleich wurde in dem Konzeptionspapier der Europäischen Kommission zu den EU-China-Beziehungen aus dem Jahr 2019 Peking nicht nur als Wirtschaftspartner und ökonomischer Konkurrent, sondern gleichzeitig auch als ein zunehmender „systemischer Rivale“ eingestuft. In der Außen- und Sicherheitspolitik wird durch eine „Wolfs-Krieger“-Diplomatie (nach einer chinesischen Action-Filmserie nach Vorbild der US-Filmserie Rambo benannt) unter Präsident Ji Xinping auch zunehmend das Wertesystem des autoritär-nationalistischen Politiksystems Chinas exportiert, womit grundlegende Interessen der EU sowie Deutschlands auf globaler Ebene herausgefordert werden. Damit muss auch selbstkritisch sowohl in den USA als auch der EU eingestanden werden, dass die Hoffnungen, dass ein „Wandel durch Handel“ und der Aufstieg einer breiteren Mittelschicht zu einer zunehmenden Demokratisierung des politischen Systems in China führen würde, sich nicht erfüllt haben. Stattdessen nimmt die Außen- und Sicherheitspolitik Chinas immer weniger Rücksicht auf das internationale Völkerrecht und die Sicherheitsinteressen anderer Länder. Gegenüber dem bestehenden völkerrechtlichen Wertesystem sind die regionalen und globalen Ordnungsvorstellungen der Kommunistischen Partei Chinas unter Ji Xinping von traditioneller politischer Unterordnung sowie Kotau-Erwartungen anderer Länder gegenüber dem Reich der Mitte und seiner dominierten geopolitischen Einflusszonen geprägt.

Welche konzeptionellen Veränderungen bieten die neuen Leitlinien? Und wie stellen Anspruch und Wirklichkeit der deutschen und europäischen Politik in der Indo-Pazifik-Region dar? Anfang September hat das US-Verteidigungsministerium zudem eine Analyse der militärischen Aufrüstung Chinas vorgestellt.

Die neuen deutschen Leitlinien zur indo-pazifischen Region

Nur ein geografisch wertneutraler Begriff?
Zunächst fällt auf, dass das Papier mit dem Titel den geoökonomischen und geopolitischen Stellenwert Indiens und der maritimen Region des Indischen Ozeans hervorhebt, während die älteren Asien-Strategien der Bundesregierung bisher von der „asiatisch-pazifischen Region“ sprachen. Dies erklärt einerseits, dass immer mehr Staaten und Regionalorganisationen den geografischen Begriff „Indo-Pazifik“ verwenden. In Europa hatte bisher nur Frankreich eine eigene „Indo-Pazifik-Konzeption“ vorgelegt. Zum anderen ist es auch ein geopolitischer Begriff, der aus Sicht der USA nicht wertneutral ist. So zielt das Konzept des „Free and Open Indo-Pacific“ der Trump-Administration von 2017 auf eine Eindämmung Chinas und ist Ausdruck der zunehmenden strategischen Rivalität zwischen beiden Seiten, die sich sicherheitspolitisch vor allem im Indischen Ozean, dem Südchinesischen Meer, in der Taiwan-Straße und im Ostchinesischen Meer manifestiert.

Daher wird in Peking der Begriff „Indo-Pazifik“ primär als gegen China gerichtete Eindämmungsstrategie der USA verstanden.

Die USA haben den politischen Druck auf die EU und Deutschland verstärkt, einer US-Eindämmungsstrategie und einer wirtschaftlichen Abkoppelung von China zu folgen. Daher sehen sich die EU und Deutschland einem mehrfachen strategischen Dilemma gegenüber.

Einerseits wollen sie einer US-Eindämmungsstrategie der USA nicht folgen. Andererseits wird die Option der „strategischen Äquidistanz“ auch nicht favorisiert, da auch Brüssel und Berlin die bilateralen Beziehungen mit Peking inzwischen deutlich kritischer sehen.

Inzwischen wird nicht nur die Außen- und Sicherheitspolitik Chinas (wie im Südchinesischen Meer, gegenüber Taiwan oder jüngst bei der wiederholten Eskalation des Grenzkonfliktes mit Indien) zunehmend kritisch gesehen, sondern auch die wirtschaftlichen Beziehungen, die nicht länger als nachhaltige gleichberechtigte Partnerschaft gewertet werden. Zudem hat sich der politische Wertekonflikt der EU mit China verstärkt. Trotz der Kritik der EU an der Außen- und Wirtschaftspolitik der Trump-Administration kann es für die EU keine politische Äquidistanz zwischen dem demokratischen System der USA und einem autoritär-nationalistischen Staatssystems wie in China geben. Daher hat die EU eine Art „Sinatra-Doktrin“ einer (außen-)politischen Autonomie favorisiert, da sie weder eine „Kolonie“ Chinas noch der USA sein will. Gleichzeitig lehnt sie auch einen neuen Kalten Krieg ab, da sowohl die EU als auch die USA mit China wirtschaftlich viel enger miteinander verflochten sind, als es der Westen und der Ostblock seinerzeit waren. Zudem wird China für den globalen Klimaschutz benötigt, da 28 Prozent der weltweiten Treibhausgas-Emissionen auf China entfallen (EU: neun Prozent). Auch wären für die EU und Deutschland die wirtschaftlichen Kosten eines vollständigen Decoupling wesentlich größer und problematischer als für die USA.

Während der Anspruch der EU, ihre Werte und Interessen auch gegenüber den USA in der indo-pazifischen Region verteidigen zu wollen, nachvollziehbar und wünschenswert ist, stellt sich jedoch gleichzeitig die Frage, inwieweit die EU – unabhängig von den USA – nicht nur ihre globalen sicherheitspolitischen Interessen, sondern auch ihre wirtschaftlichen Interessen in der indo-pazifischen Region verteidigen will. Das von Peking immer wieder verschleppte und vor allem von der Bundesregierung favorisierte umfassende Investitionsabkommen mit China, das seit 2013 verhandelt wird und den Zugang zum chinesischen Markt auf der Grundlage der Gegenseitigkeit durch Abbau von Marktzugangsasymmetrien und diskriminierenden Wettbewerbsbedingungen gewährleisten soll, konnte auch auf dem jüngsten virtuellen EU-China-Gipfel im September nicht geschlossen werden.

Quelle: GIZ/Grafik: mawibo media

Leitlinien und strategische Interessen Deutschlands in der Indo-Pazifik-Region
Mit den neuen Leitlinien erhebt die Bundesregierung den Anspruch, „die internationale Ordnung von morgen mitzugestalten“. Die EU dürfe sich nicht mit einer „Zuschauerrolle“ begnügen. Wie Außenminister Heiko Maas im Vorwort hervorhebt, entscheidet sich die „Ausgestaltung der internationalen Ordnung von morgen im Indo-Pazifik“. Dabei will die Bundesregierung sich auch noch stärker mit den regionalen Sicherheitsherausforderungen befassen. Sie will sich nicht nur mit neuen rüstungskontrollpolitischen Initiativen engagieren, sondern auch durch Beteiligungen an militärischen Übungen und „kollektiven Sicherungsmaßnahmen zum Schutz der regelbasierten Ordnung in Umsetzung von Resolutionen der Vereinten Nationen“ und der „Festigung einer multilateral regelbasierten Multipolarität in der Region“.

Der Aufstieg Chinas und die weltweite wirtschaftliche Bedeutung der Region sind schon vor 20 Jahren richtig wahrgenommen worden. Inzwischen befinden sich auch 20 von 33 Megastädten weltweit in dieser Region. Der Handelsumfang mit der Region hat sich in den letzten 15 Jahren verdoppelt. Der Anteil der Indo-Pazifik-Region am globalen Wirtschaftswachstum liegt bei rund 60 Prozent. 2019 betrug der Anteil Süd-, Südost- und Ostasiens sowie Australiens und Neuseelands am deutschen Warenhandelsaustausch über 20 Prozent und machte rund 420 Milliarden Euro aus. Davon entfallen allein auf China 50 Prozent. Von den überproportional steigenden Handels- und Investitionsbeziehungen mit den Regionalstaaten hängen inzwischen in Deutschland Millionen Arbeitsplätze ab. Auch aufgrund der jüngsten Pandemieerfahrungen will die Bundesregierung künftig allzu einseitige wirtschaftliche Abhängigkeiten vermeiden und diese stärker diversifizieren.
Wesentlich stärker als in der Vergangenheit werden die strategische Bedeutung offener Seewege und damit maritime Sicherheitsfragen für den Exportvizeweltmeister Deutschland hervorgehoben. Mehr als 90 Prozent des weltweiten Außenhandels erfolgen über die Seewege. Bis zu 25 Prozent des seewärtigen Welthandels und mehr als 2.000 Schiffe werden allein durch das Nadelöhr (Choke Point) der Malakka-Straße geführt. Die Aufrechterhaltung der offenen Seewege einschließlich des Südchinesischen Meeres und der Taiwan-Straße ist somit im strategischen Interesse Deutschlands und der EU, da eine längere Unterbrechung der maritimen Lieferwege und -ketten gravierende Versorgungsprobleme in Deutschland und der EU zur Folge haben könnte.

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Während dies zu begrüßen ist, werden doch zugleich weiterhin tradierte Leitbilder und Narrative in der neuen Indo-Pazifik-Konzeption projiziert, die eher Wunschbildern gleichen. So ist ein „substanzieller und rechtsverbindlicher Verhaltenskodex“ (Code of Conduct) zwischen China und den ASEAN-Staaten auch aus deutscher Sicht wünschenswert. Diese Rechtsverbindlichkeit wird es kaum geben. Sie wird in den Verhandlungen auch gar nicht angestrebt, weil vor allem Peking hierzu von Beginn an nicht bereit war. Auch viele rüstungspolitische Initiativen mögen einer Vertrauensbildung dienen. Doch werden sie die Rüstungsdynamik in der Region kaum beeinflussen oder gar begrenzen, weil China faktisch keine geopolitische Status-quo-Macht ist, sondern als „Reich der Mitte“ die Machtverhältnisse auf regionaler und globaler Ebene durch eine Politik des Rechts des Stärkeren einseitig zu seinen Gunsten und zu Lasten anderer Regionalstaaten zu verändern sucht. Das regionale sicherheitspolitische Problem ist auch kein „Mangel an regionalen kooperativen Sicherheitsstrukturen“, wie in dem Konzeptionspapier beklagt wird. Solche gibt es mit dem ASEAN Regional Forum und anderen Regionalforen sowie Initiativen durchaus. Es ist vielmehr der fehlende politische Wille, diese entsprechend qualitativ zu vertiefen und zu konkreten Ergebnissen zu führen, wie z.B. verifizierbare Rüstungskontrollregime. Zudem erschweren auch neue Sicherheitsherausforderungen wie Cybersicherheit, 5G oder Künstliche Intelligenz und Digitalisierung jegliche Anstrengungen einer künftigen Rüstungsexportkontrolle, da fast alle neuen disruptiven Technologien einen Dual-Use-Charakter haben.

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