Resümee der Außenminister-Tagung der NATO: „Brainstorming“ nach „Brain death“
„Wir sind uns alle einig, dass die NATO für unsere Sicherheit unverzichtbar bleibt und dass wir trotz unserer Differenzen stärker sind, wenn wir gemeinsam in die Zukunft blicken“, ist das Fazit von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zur Tagung der NATO-Außenminister vom 20. November 2019.
Im Vorfeld des Gipfels in London trafen die Minister Entscheidungen für weitere Anpassungen der NATO. Der Weltraum wurde zum fünften Einsatzbereich der Allianz neben Luft, Land, Meer und Cyber. „Dies kann es NATO-Planern ermöglichen, Bündnispartner aufzufordern, Fähigkeiten und Dienste bereitzustellen, wie z. B. Satellitenkommunikation“, sagte der Generalsekretär. Er fügte hinzu, die NATO habe nicht die Absicht, Waffen in den Weltraum zu bringen. Auch bleibe der Ansatz in vollem Einklang mit dem Völkerrecht.
Darüber hinaus brachten die Außenminister Empfehlungen zur Stärkung der Rolle der NATO auf dem Gebiet der Energiesicherheit auf den Weg. Man wolle das Situationsbewusstsein verbessern und die Risiken zum Schutz kritischer Infrastruktur besser verstehen. Mit dem Ziel, dass die NATO-Streitkräfte jederzeit über die erforderlichen Energieressourcen verfügen. Was (indirekt wie direkt) die Resilienz der Mitgliedsstaaten verbessern könne.
Außerdem erörterten die Minister die Rolle der NATO bei der Bekämpfung des Terrorismus und sichteten die Fortschritte bei der Stärkung der Sicherheit im Schwarzmeerraum. Quasi wie zur Bestätigung des Selbstverständnisses der Allianz als Wertegemeinschaft einigten sich die Minister auf eine NATO-weitePrävention sexueller Ausbeutung und sexuellen Missbrauchs – Maßnahmen, die über den 2018 verabschiedeten ‚NATO/EAPC Women, Peace and Security Policy and Action Plan‘ hinausgehen. Ein Entschluss zur Aufrüstung und Modernisierung der AWACS-Flotte, um deren Einsatz bis 2035 zu ermöglichen, stand ebenfalls auf der ordentlich gefüllten Tagesordnung (Anmerkung: am 27. November 2019 unterzeichnen NATO und Boeing einen Vertrag über 1 Milliarde US-Dollar zur Modernisierung der AWACS-Flugzeugflotte der Allianz). Während des Diners erörterten die Minister den koordinierten Ansatz der NATO zu drei strategischen Themen: Beziehungen zu Russland, Aufstieg Chinas und Rüstungskontrolle. „Die NATO ist die einzige Plattform, auf der sich Europa und Nordamerika täglich mit solchen strategischen Fragen befassen, die für unsere gemeinsame Sicherheit von Bedeutung sind“, formulierte der Generalsekretär.
Mit Verweis darauf, dass bei der Lastenverteilung im Bündnis „der Trend aufwärts und beispiellos“ ist, zeigte sich Jens Stoltenberg angetan und zuversichtlich. Im fünften Jahr in Folge stiegen Verteidigungsausgaben in Europa und in Kanada – mehr als 100 Milliarden US-Dollar seien zusätzlich in die Verteidigung geflossen. „Dies ist ein beispielloser Fortschritt. Und wir sind entschlossen, die Dynamik aufrechtzuerhalten.“ Die Veröffentlichung der Sunday Times zu etwaigen Kürzungen des britischen Verteidigungshaushaltes als Kompensation für die Pläne von Premier Boris Johnson für erhöhte öffentliche Ausgaben und Steuersenkungen im Wert von 23 Mrd. GBP (26,9 Milliarden Euro) stand da noch aus (Sunday Times, 24. November).
Rat der Weisen
Und natürlich dominierte der vermeintliche oder offensichtliche Hirntod der Allianz die Tagung. Der Vorschlag des deutschen Außenministers Heiko Maas zu einer „Frischzellenkur“ fand Zustimmung und soll von den Staats- und Regierungschefs in London weiter behandelt werden. Fragen zu Details zum französischen Vorschlag wich Jens Stoltenberg in der Pressekonferenz nach dem Außenministertreffen aus. Bekannt wurde, dass wie der deutsche auch der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian die Bildung einer Gruppe von Experten (‚sages‘ = Weisen) vorsieht, die sich mit der Zukunft der Allianz beschäftigen solle. Paris schwebt eine kleine Gruppe politisch unabhängiger Persönlichkeiten (unabhängig auch im Sinne, nicht im täglichen Betrieb der NATO eingebunden zu sein), die gemeinsam mit dem Generalsekretär (der als Sachverständiger der NATO beteiligt ist) Vorschläge erarbeiten, die (bis) zum nächsten Gipfel Anfang 2021 vorgelegt werden sollen. „Wir müssen zum Buchstaben und zum Geist“ des Atlantikvertrags zurückkehren. Artikel 5 sollte „nicht als Versicherungspolice, sondern als solide kollektive Sicherheitsverpflichtung“ eines jeden Landes verstanden werden. Diese Debatte sei erforderlich, um „die Werte, Ziele, Mittel“ des Bündnisses zu definieren.
Demgegenüber sieht der deutsche Vorschlag eine hochrangige Expertenkommission unter Leitung des NATO Generalsekretärs vor, die bis zum nächsten regulären Nato-Gipfel einen Bericht mit Vorschlägenunterbreiten soll.
Grundlegende Reform geboten
Die Berücksichtigung des Weltraums als eigenständiger Einsatzbereich oder die Betrachtung Chinas sind keine ausreichenden Therapien zur Anpassung und Modernisierung des Bündnisses – in der Tragweite der von Präsident Emmanuel Macrons aufgestellten Diagnose. Obwohl gerne heruntergespielt, sind die politischen Trends evident, die eine Weiterentwicklung des Bündnisses gebieten. Da ist vor allererst der Rückzug der bisherigen Ordnungsmacht USA. Wobei man das nicht allein am aktuellen amerikanischen Präsidenten festmachen sollte, dessen Verhalten (man denke an Afghanistan, Iran, Syrien) die beiden wichtigsten Waffen der Allianz, Verlässlichkeit und Geschlossenheit, unscharf gemacht hat. Die Vorbereitung strategischer Entscheidungen und (zugegebenermaßen langwierigen) Konsultationen im NATO-Rat hat Präsident Donald Trump auf 160 Buchstaben eingedampft: Staats- und Regierungschef im Bündnis erfahren von Entscheidungen des Präsidenten, die Auswirkungen auf ihre eigenenSicherheits- und strategischen Interessen haben, über Twitter.
Doch schon vor dem 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika hatte man in Washington eine Umorientierung eingeleitet. Der Pazifische Raum mit dem Antipoden China, der sich nicht nur zu einer mächtigen Wirtschaftsmacht aufschwang, rückte in den Fokus. Die europäischen Verbündeten nahmen diese Umbesinnung lediglich zur Kenntnis, ohne die Konsequenzen eingehender zu untersuchen. Einzelne Engagements der USA wie Stationierung in Polen, Installation von THAAD in Rumänien oder Defender 2020 euphorisier(t)en europäische Hauptstädte, insbesondere die Betroffenen, wirken letztendlich lokalanästhetisch. In Brüssel (als der europäischen Metropole, Sitz von NATO und EU) wurde an der Wesensveränderung amerikanischer Politik vorbeigedoktert. Statt nun selbst relevanter innerhalb der NATO zu werden, zeitigen sich Fortschritte bei der Entwicklung militärischer Fähigkeiten nur marginal. Zwar bemüht sich die EU um ihre Verstärkung – mittlerweile auch durch eigene Budgetierung (European Defence Fund). Essenziell bleibt es dabei, die Europäer sind zu leichtgewichtig, der europäische Pfeiler in der NATO trägt nicht. Der Ausbau der militärischen Beiträge der europäischen Alliierten, in Kooperation mit der EU ist schleppend und führt immer wieder zur Frage der institutionellen Ausgliederung. Demgegenüber macht eine Verstärkung der militärischen Fähigkeiten der europäischen Nationen sie als Partner für die USA attraktiver. Dies impliziert Lastenausgleich und Handlungsfähigkeit. Womit sich die USA (insbesondere unter der gegenwärtigen Administration) ihrerseits motiviert fühlen könnten, sich weiterhin für Europas Sicherheit zu engagieren. Was im Rückschluss die Glaubwürdigkeit der NATO stärken würde, ohne deren konventionelle und nuklearen Beiträge Abschreckung nicht wirklich trägt. Im globalen Kontext – also nicht nur im dualen Verhältnis zu Russland.
Das Vakuum, das die Vereinigten Staaten in der NATO schufen, ist durch die europäischen Partner zu füllen. Deren Führungsnationen anerkennen lernen sollten, dass sich die Bedrohungslage für die Ränder Europas anders darstellt als für die Mitte. Die „Visegrad“ Staaten und die Baltischen Republiken sehen Russland als Bedrohung für ihre Sicherheit.
Die NATO muss wieder zu der ‚alten‘ Verlässlichkeit zurückfinden, einschließlich in der Demonstration von Abschreckung. Auch in ihrer ultima ratio, der nuklearen Abschreckung. Und, wie das nun erkorene Thema China zeigt, muss ein Weg gefunden werden zwischen politischer Konfrontation und ökonomischer Kooperation. Was auch für Russland gelten mag.
Daher scheint der Vorschlag der deutschen Verteidigungsministerin ‚A2A‘ – ability to act – im Sinne der Allianz angebracht. Sofern auf die Worte Taten folgen. Vielleicht lassen sich auch weitere Formen der Ertüchtigung andenken – etwa die Einrichtung eines Fonds, aus dem weniger finanzkräftige Nationen für den Aufbau und Erhalt militärischer Fähigkeiten Mittel erhielten. In der Allianz ließe sich, derart gestärkt, – und durch eine kohärente Behandlung in EU und NATO – dann auch mit Belastungen durch einzelne Bündnispartner leichter umgehen (Anspielung auf die Türkei (Rüstungskäufe in Russland, Einmarsch in Nordsyrien, Öl-/Gas-Exploration in der Wirtschaftszone Zyperns)).
„Es ist jetzt an der Zeit, vom Hirntod zum Brainstorming überzugehen“, stellte die französische Verteidigungsministerin Florence Parly am 23. November in einer Rede vor dem Internationalen Institut für Strategische Studien in Bahrain fest. Und hinzufügte: „Da die USA manchmal anderswo hinschauen, muss eine ganze Grammatik der Abschreckung neu erfunden werden.“
Der NATO Generalsekretär wollte sich in der Woche 25.-29. November in Paris mit Präsident Emmanuel Macron austauschen. Man darf auf das Ergebnis gespannt sein. In der Folge bleibt zu hoffen, dass der Gipfel in London mehr bringt als die Konzentration der meisten Verbündeten darauf, eine weitere Pleite mit dem US Präsidenten zu vermeiden. Und, dass am Ende der wie auch immer gearteten Expertenkommission ein ähnlich tragbares und die Allianz prägendes Ergebnis stehen wird wie der Bericht “Report of the Council on the Future Tasks of the Alliance” aus dem Jahre 1967 – besser bekannt unter dem Namen des belgischen Außenministers Pierre Harmel. Oder: Können die europäischen Länder sich darauf einigen, wohin die NATO sich ohne institutionelle Ausgliederung europäischer Fähigkeiten entwickeln soll?
Hans Uwe Mergener