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Das heutige Scheitern der Kandidatin des französischen Präsidenten Emmanuel Macron für die neue EU-Kommission wird Kreise ziehen. Im zweiten Anlauf (ihre erste Anhörung war am 2. Oktober) erhielt die frühere französische Verteidigungsministerin 29 Stimmen, 82 Ausschussmitglieder waren gegen sie, zusätzlich gab es wohl eine Enthaltung.

Zwar noch zu früh für eine genaue Bestandsaufnahme der Gründe, so ist augenscheinlich, dass es multiple Ursachen gibt. In Brüssel wird zuallererst Emmanuel Macrons Schachzug gegen die Europäische Volkspartei (EVP) angeführt. Und in der Folge die von ihm zumindest mitgetragene (oder provozierte) Entscheidung des Europäischen Rates zum Nachteil des Spitzenkandidaten Ursula von der Leyen als ihre Kandidatin an die Spitze der Europäischen Kommission zu hieven. Schließlich ist das sehr große Portfolio von Belang, das zwei Portfolios der bisherigen Kommission entspricht. Letztendlich ist die Kandidatin in den Augen der sie beurteilenden Abgeordneten nicht als die integre Persönlichkeit bewertet worden, die sie für dieses Amt mitbringen sollte. „Ihre Kandidatur ist ein echtes ethisches Problem“, wird die liberale tschechische Europaabgeordnete Dita Charanzova (Renew Europe, ANO) in einer belgischen Tageszeitung zitiert.

Französische und belgische Medien kritisieren die Vorgehensweise des französischen Staatspräsidenten, der eine bei ihm gescheiterte Verteidigungsministerin nominierte (Anmerkung: sie hatte das Amt vom 17. Mai bis 20. Juni 2017 inne). Er selbst zieht sich in Ratlosigkeit zurück – und in Schuldzuweisungen. Auf CNEWS lässt sich Emmanuel Macron ein, ihm sei von Ursula von der Leyen versichert worden, dass sie die Zustimmung der EVP, SPE und Renaissance für Sylvie Goulard erhalten habe. „Ich verstehe nicht, wie es sich so bewegen kann, wenn der Vorsitzende der ernannten Kommission eine Diskussion mit den drei Fraktionspräsidenten führt und (sie) sich auf etwas einigen. Das muss ich erst einmal begreifen!

Die massive Ablehnung weist aus, dass die Kandidatin es nicht wirklich geschafft hat, über ihr Lager hinaus zu überzeugen. Zwischen der Anhörung (die am Morgen um 09.30 Uhr begann und gegen 11.00 Uhr endete) und der Abstimmung am Nachmittag soll es zwei Telefonate zwischen dem Elysée und dem Kanzleramt gegeben haben. Neben anderen auf höchster Ebene – wohl mit dem Ziel auf die Entscheidungen Einfluss nehmen zu wollen. François-Xavier Bellamy (EVP/Les Républicainssprach öffentlich über „den Druck, den viele seiner Kollegen von Regierungen erhalten haben“.

Der Verlust dieses Kernstücks der Kommission (Sylvie Goulard sollte EU-Kommissarin für IndustriepolitikBinnenmarkt und Verteidigungsindustrie (damit zwei Generaldirektionen (Grow (Binnenmarkt, Industrie und Unternehmen) und Connect (Technologie)) führen sowie die Generaldirektion Verteidigung aufbauen) stelltdie künftige EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und den französischen Präsidenten Emmanuel Macron tatsächlich vor eine Herausforderung. Schnell muss Ersatz her. Wahre Kenner des Portfoliosinsbesondere der Verteidigung, zudem noch weiblich, sind rar. Bliebe ein neuer Zuschnitt. Eine Überprüfung der gesamten Verteilung der Portfolios würde zu neuen Abstimmungen und Anhörungen führen. Was zum jetzigen Zeitpunkt problematisch erscheint. Gut möglich, dass das neue Kollegium nicht wie geplant am 1. November antreten kann. Womit die Juncker-Kommission Überstunden machen müsste.

Hans Uwe Mergener