Print Friendly, PDF & Email

Herrschte am Donnerstagabend noch eitel Sonnenschein über dem Schuman Platz, um den sich die EU-Rats- und die Kommissionsgebäude gruppieren, so trübte sich die Stimmung bis zum Freitagnachmittag ein. Der Blick zwischen die Zeilen offenbart Misstöne, die den vermeintlichen Erfolg des Gipfels in ein anderes Licht rücken.

Ursächlich für dieses Urteil sind nicht nur die Abläufe in London zum Brexit. Es beginnt damit, die von den Akteuren bemühte Bewertung infrage zu stellen, die am Donnerstag vorgestellte Lösung schaffe mehr Sicherheit. Das beabsichtigte Kontrollregime für den Warenverkehr nach und durch Nordirland, dem ein Zwitterstatus zukommt, wirkt ebenso wie die Tatsache, dass es in Zukunft keine Zollunion, keinen mit Großbritannien gemeinsamen Binnenmarkt mehr geben wird, infolgedessen das ehemals angestrebte ‚level playing field‘ preisgegeben wird, sich also ungleiche Wettbewerbsbedingungen etablieren werden können, alles andere als Sicherheit stiftend. Hinzu kommen Unwägbarkeiten durch die dem nordirischen Gesetzgeber eingeräumte Evaluierung (erstmals in vier Jahren).

Doch auch andere <nicht getroffene> Entscheidungen, trüben das Bild der vermutlich letzten EU-Ratssitzung der beiden scheidenden Akteure: Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (seine 148.) und Ratspräsidenten Donald Tusk.

Einmal mehr wurden die Beratungen über den mehrjährigen Finanzrahmen nicht abgeschlossen. Statt einer Einigung auf Gesamtansatz, der Volumina der einzelnen Politikbereiche und der Finanzierung des Haushalts wurde der finnische Ratsvorsitz nunmehr mit einer Aufschlüsselung des Stands der Dinge nach verschiedenen Elementen (sogenannte Verhandlungsbox) beauftragt, die zur Grundlage einer Behandlung im Dezember-Gipfel dienen soll. Zwar war ein Durchbruch nicht zu erwarten, doch lähmt dieser Aufschub die Handlungsfähigkeit der Union und bremst insbesondere die Digitalisierung, den Kampf gegen den Klimawandel, die Finanzierung von Erasmus-Projekten ebenso wie die sogenannten ‚neuen‘ Politikbereiche wie Forschung oder die Nachlassverwaltung bei Eintritt des Brexits. In der Pressekonferenz zum Gipfelende kommentierte der Kommissionspräsident den Aufschub mit vernehmbarer Enttäuschung, zumal (ihm zufolge) keine neuen Argumente vorgebracht wurden, sondern nur bekannte Positionen vertreten.

Man bleibt hinter Erwartungen zurück

Den offiziellen Schlussfolgerungen zufolge leistete die gewählte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei dem angesetzten Meinungsaustausch zum nächsten institutionellen Zyklus nicht mehr als einen „Beitrag der Kommission zur Umsetzung der Prioritäten der EU gemäß der strategischen Agenda“. Das klang im Austausch mit den Medien beim Eintreffen der zukünftigen Kommissionspräsidentin am Freitagmorgen im Europa-Gebäude wesentlich ambitionierter. Es war ihr anzumerken, dass sie sich von der  Diskussion ihrer politischen Leitlinien und zur Idee einer ‚geopolitischen Kommission‘ mehr erhoffte. Die im Übrigen im französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron einen starken Unterstützer findet, der nach eine stärkeren Positionierung der EU im globalen Wettbewerb sucht – auf allen Feldern: diplomatisch, wirtschaftlich, handelspolitisch, militärisch. In seinem nationalen Briefing schwärmt er von europäischen  Wirtschaftschampions (nach dem Vorbild von Airbus).

Die Abhandlung des Tagesordnungspunktes Klimawandel brachte im Ergebnis nicht mehr als: Geben Sie uns bitte noch ein paar Monate Zeit. Der Europäische Rat „erinnert daran, dass er seine Vorgaben für die langfristige Klimaschutzstrategie der EU auf seiner Dezember-Tagung fertigstellen wird, damit die langfristige Strategie der EU Anfang 2020 angenommen und dem UNFCCC (Anmerkung des Verfassers: United Nations Framework Convention on Climate Change, Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen) übermittelt werden kann“, so die Schlussfolgerungen. Unter Anerkenntnis der „existenziellen Bedrohung, die eine ehrgeizigere Zielsetzung und einen verstärkten Klimaschutz seitens der EU und weltweit erfordert“, hätte man mehr erwarten können.

Albanien und Nordmazedonien: Vertagung der Beitrittsverhandlungen

Für regelrechte Enttäuschung der Mehrzahl der Teilnehmer wie bei den Betroffenen sorgte die Vertagung der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien. Zwar wollte eine Mehrheit in diese Phase eintreten – und um nicht mehr ging es bei diesem Tagesordnungspunkt, die Bedingungen eines Beitritts wären in den sich anschließenden Verhandlungen festzulegen (analog zum Brexit). Doch entzogen sich drei Mitgliedsstaaten (Dänemark, Frankreich, Niederlande) einem einstimmigen Beschluss. Die EU wird sich zum  Gipfel von Zagreb im Mai 2020 erneut mit diesem Thema befassen <müssen>. Dazu Ratspräsident Donald Tusk: „Lassen Sie mich ganz klar sagen: Nordmazedonien und Albanien sind nicht dafür verantwortlich. Und die Berichte der Kommission zeigen auch deutlich, dass diese beiden Länder das getan haben, worum sie gebeten wurden. Und die Annahme des Prespa-Abkommens (Anmerkung des Verfassers: die am 12. Juni 2018 zwischen Griechenland und Nordmakedonien unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen erzielte Einigung zur Beilegung eines langjährigen Streits über den Staatsnamen) war eine wirklich außergewöhnliche Leistung. Daher haben beide Länder das Recht, ab heute EU-Verhandlungen aufzunehmen. Sie sind bereit. Leider sind einige Mitgliedstaaten noch nicht bereit. Deshalb ist es uns nicht gelungen, eine positive Entscheidung zu treffen. Persönlich denke ich, dass es ein Fehler war, aber ich werde es nicht weiter kommentieren.“ Jean-Claude Juncker bezeichnete die getroffene (Nicht-)Entscheidung als „historischen Fehler“. Nordmazedonien hat seit 2005, Albanien seit 2014 den Status eines EU-Bewerberlandes. Mit der Unterzeichnung des Protokolls zur Aufnahme Nordmazedoniens am 6. Februar 2019, schuf die NATO bereits Fakten – der Beitritt soll 2020 erfolgen.

Für viele Beobachter gingen die Reaktionen gegenüber der Türkei a) zu ihrem Vorgehen im Norden Syriens b) den Bohraktivitäten innerhalb der Ausschließlichen Wirtschaftszone (EEZ) von Zypern nicht weit genug.

Europäisches Parlament: Befassung mit Brexit und Kommission

Was sonst noch geschah: Christine Lagarde wurde in einem letzten Verfahrensschritt zur Präsidentin der Europäischen Zentralbank ernannt. Die künftige Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen traf im Rahmen eines Arbeitsfrühstücks am Freitagmorgen gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten und der Bundeskanzlerin auf Repräsentanten der drei großen politischen Fraktionen des Parlaments: dem Kroaten Andrej Plenković und dem Letten Krišjānis Kariņš (PPE), dem Spanier Pedro Sanchez und dem Portugiesen Antonio Costa (S&D), dem Niederländer Mark Rutte und dem Belgier Charles Michel (Renew). Auf der Suche nach Unterstützung ihres Mandats und einer stabilen Mehrheit für die neue Kommission. Weitere derartige Treffen sind für die Sitzungswoche in Straßburg (ab 21. Oktober) vorgesehen.

Wobei sich das Parlament unter anderem mit dem weiteren Fahrplan beschäftigen zu haben wird. Denn neben der Konstituierung der Kommission gilt es auch eine Entscheidung zum Brexit herbei zu führen.

Die Behandlung der Kommission soll bei einer Vollversammlung am 25. November erfolgen. Was die Nominierung der Kandidaten und ihre Befragung bis zum 14. November voraussetzt. Womit sich die Frage nach den Kandidaten stellt. Schwierig im Falle Rumäniens, dessen Präsident Klaus W. Iohannis die Legitimierung der Ministerpräsidentin  Viorica Dăncilă und damit deren Nominierungen in Frage stellte. Auch für Paris wird die Auswahl nach dem Scheitern von Sylvie Goulard knifflig. In Brüssel wird gerne Michel Barnier bemüht. Dies setzte allerdings voraus, dass der Brexit soweit in trockenen Tüchern ist, um ihn von seiner Aufgabe als Chefunterhändler zu entbinden. Inwieweit bei dem Frühstück am vergangenen Freitag schon Namen gehandelt wurden, ist nicht bekannt. Im Sinne einer breiten Verständigung denkbar.

Die Behandlung des Brexits begann im Europäischen Parlament bereits am Montagabend (21. Oktober). Antonio Tajani, Vorsitzender des Ausschusses für konstitutionelle Fragen (AFCO), äußerte sich optimistisch zu einer ordentlichen Beschlussfassung für einen geregelten Austritt zum 31. Oktober. Eine Abstimmung in einer Plenarsitzung wird nicht vor Donnerstag (24. Oktober) erwartet, da der Berichtsentwurf von AFCO in 23 Sprachen übersetzt werden muss. „Wir warten jetzt auf die Entscheidung in Westminster, dann werden wir den Text und die Dokumente studieren und über den Deal frei abstimmen“, so der ehemalige Parlamentspräsident Antonio Tajani.

Muss sich Europa neu erfinden?

Insgesamt verbleibt das Gefühl vertaner Chancen. Wiederum hat Brexit den Gipfel dominiert. Zudem unter Vortäuschung eines doch fragwürdigen Erfolges (zu den wirtschaftlichen Implikationen: siehe Kasten). Und ohne die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Ein Ausscheren aus dem EU-Binnenmarkt wird das Vereinigte Königreich zu einem ökonomischen Wettbewerber machen. In den Augen des britischen Premiers ist London nun imstande, Partnerschaften, insbesondere die wirtschaftlichen und die Handelsbeziehungen neu zu definieren. Ob die sozialen und arbeitsmarktpolitischen Standards dabei erhalten bleiben, ist die Sorge – nicht nur von britischen Gewerkschaftlern. Gleiches gilt für Staatsbeihilfen, bei Umwelt und Steuern.

Letztendlich ist Londons sicherheitspolitischer Beitrag für Europa neu zu definieren.  Dies reicht von der militärischen Beteiligung (Großbritannien ist Mitglied im UN-Sicherheitsrat, Nuklearmacht, ein großer Truppensteller und ist in der Lage, eine Reihe militärischer Fähigkeiten aufzubringen, einschließlich Flugzeugträger („HMS Queen Elizabeth“ ist das größte Kriegsschiff Europas)) bis hin zur Teilhabe am europäischen Verteidigungsfonds (der eine Drittstaatenregelung zulässt). Die sicherheitspolitischen Aspekte des Brexits führen  unterdessen zu einer Bedeutungszunahme Frankreichs als die in der Militärpolitik einzig verbleibende europäische Nation mit Schlagkraft.

Klimawandel, rückläufige Lebensstandards, zunehmende Unsicherheiten in Bezug auf Globalisierung und Digitalisierung sowie der sich abzeichnende demografische Druck wären es wert, von einer EU-Strategie erfasst zu werden. Und die Überzeugung der Bürger in die EU wiederherzustellen. In einer jüngst (17. Oktober) veröffentlichten Bürgerbefragung der Brüsseler Denkfabrik Friends of Europe erklärten sich sechzig Prozent unsicher, ob sie Europa vermissen würden (in Frankreich 72 Prozent, in Italien 67 Prozent, in Deutschland 60 Prozent, 63 Prozent im Vereinigten Königreich) – dies der hohen Wahlbeteiligung in den diesjährigen Parlamentswahlen zum Trotz. Einzig in Polen sprachen die Befragten positiv für die EU aus: hier würden 58 Prozent die EU vermissen.

In der gleichen Befragung wurde der Klimawandel vor weltweitem Frieden sowie Arbeit und der Befähigung dazu als Prioritäten der Bürger ausgemacht. Demgegenüber gehörte die Stärkung einer europäischen Identität, eine der Prioritäten der zukünftigen Kommissionspräsidentin, nicht zu den Top Ten der befragten Bürger.

Es scheint, als wäre der Entwurf einer Neufassung des Buches Europa geraten. Dazu gehört die Frage, wieweit Integration ein weiter verfolgenswertes Modell für das zusammenwachsende Europa sein wird. Ab dem Austrittsdatum wird es für die Anhänger von Freihandel und Liberalismus unmöglich, sich hinter dem Vereinigten Königreich zu verstecken. Insofern bedarf die Aussage von Ursula von der Leyen bei der Vorstellung ihrer neuen Kommission (10. September 2019 in Brüssel) „Ich wünsche mir auch, dass die Europäische Union die Hüterin des Multilateralismus ist, denn wir wissen, dass wir stärker sind, wenn wir das, was wir allein nicht schaffen können, gemeinsam tun.“ einer Auslegung – womöglich entgegen <französischem> Dirigismus.

Exkurs Wirtschaftliche Implikationen

Financial Times beruft sich auf eine Studie der Denkfabrik „UK in a Changing Europe“. Demnach droht jedem Briten ein durchschnittlicher Verlust von 2000 Pfund an verfügbarem Einkommen im Jahr. Mays Deal hätte dagegen ein verringes Minus bedeutet. Weiterhin gehen die Autoren der Studie davon aus, dass das Pro-Kopf-Einkommen nach dem May-Abkommen um 1,7 Prozent niedriger gewesen wäre als bei einer fortgesetzten EU-Mitgliedschaft. Bei Johnsons Deal liegen die Einkommen um 2,5 Prozent niedriger. Ein No-Deal-Brexit würde 3,3 Prozent Einkommensverlust bedeuten. Diese Berechnung erfasst nicht, so die Autoren, die zusätzlichen Kosten, die das Vereinigte Königreich durch den Aufbau eines eigenen Zollregimes investieren muss.

Moniteur du Commerce International, ein renommiertes französisches einschlägiges Wirtschaftsblatt, argumentiert mit Berechnungen von Euler Hermes, denen zufolge der Brexit weltweit als zweitwichtigste Wachstumsbedrohung (35 Prozent) angesehen wird, gleich nach der politischen Situation in den USA und weit vor steigenden Rohstoffpreise (23 Prozent) oder Protektionismus (20 Prozent). Für das Vereinigte Königreich wird der Wachstumsverlust auf 1,1 Punkte geschätzt, bei 2,3 Prozent vor dem Referendum vom Juni 2016 und derzeit 1,2 Prozent. Das Pfund Sterling hat im Vergleich zu 2016 16 Prozent an Wert verloren. Der Anstieg der Löhne hat sich beschleunigt (+ 4 Prozent derzeit gegenüber 2,6 Prozent im Jahr 2016). Ohne eine Einigung über den Brexit würde die Wachstumsrate 2019 auf 0,8 Prozent und 2020 auf -1 Prozent sinken. Bei einer ordnungsgemäßen Ausstiegsvereinbarung wären es 2019 1,2 Prozent und 2020 0,8 Prozent.

Gewinner und Verlierer

Die Unsicherheiten um den Brexit hätten 0,2 Prozent des Wachstums in der Eurozone gekostet. Die Gewinner sind hauptsächlich außerhalb Europas: Von Januar bis Juli 2019 erzielten Nicht-EU-Länder Nettoexporte nach Großbritannien in Höhe von 28,1 Mrd. EUR, verglichen mit nur 2,8 Mrd. EUR für die EU-Mitgliedsländer. Allein die USA verzeichneten einen Nettozuwachs von 7,2 Milliarden Euro. Besonders betroffen sei Deutschland, aufgrund seiner Positionierung in Bezug auf technologische Produkte und Ausrüstungen einen vollständigen Rückgang der Investitionen in Großbritannien zu verzeichnen hat: Seit 2016 hat das Land einen Nettoexportverlust von 7 Mrd. EUR verzeichnet. Demgegenüber Frankreich + 0,7 Mrd., Belgien + 0,9 Mrd., die Niederlande + 5,5 Mrd. und Italien + 1 Mrd. Spanien verzeichnete einen leichten Verlust (-0,8 Mrd.).

Hans Uwe Mergener