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Ein amerikanisches Sprichwort lautet: „Zukunft ist die Zeit, in der du bereust, dass du das, was du heute tun kannst, nicht getan hast.“ Bis vor wenigen Jahren gab es den Begriff „Zukunft“ in der deutschen Sprache nur im Singular. Dies hat das Denken und Handeln – auch in Form von Schicksalsergebenheit, intellektueller Schlichtheit und Fatalismus – viele Jahrhunderte geprägt. Die Komplexität, Dynamik, Volatilität und Dichtheit der vor uns liegenden Zeit erfordert einen grundlegend neuen Umgang mit „Zukunft“ und „Zukünften“.

Sehr oft ist zu vernehmen, dass wir in einer Zeit tief greifenden Wandels leben. Diese Aussage ist richtig und bedeutend. Sie kann aber auch bei allzu häufiger Wiederholung als Banalität verstanden werden, weil sie weder das Ergebnis einer tiefschürfenden Analyse ist noch als Hilfestellung für den künftigen Weg dient.

In unserem Denken müssen wir einen harten Schnitt vollziehen zwischen Narrativen der Vergangenheit und deren Endpunkt, der Gegenwart und den Zukünften, die, je weiter sie in die Zukunft reichen, immer offener, multipler, abstrakter und auch vager werden und dennoch zugleich – im Gegensatz zu Vergangenheit und Gegenwart – von uns beeinflusst werden können. Deshalb ist es unsere „moralische Pflicht, der Zukunft ganz anders gegenüberzustehen, als wenn sie etwa eine Verlängerung der Vergangenheit und der Gegenwart wäre“ (Popper). Die Zukunft ist grundsätzlich offen; sie enthält eine ungeahnte und unabsehbare Zahl an Zukünften, Alternativen und Optionen, auch ethisch und moralisch unterschiedlichen Möglichkeiten. Zukünfte verlangen, auf Vorrat zu denken und auf der Grundlage des je aktuellen Wissens wahrscheinliche, plausible, mögliche, denkbare, auch (un-)erwünschte Perspektiven und dazu möglichst passende Strategien oder zumindest Strategieansätze zu entwickeln.

„Zukünfte“ (Grafik: Autor)

Aus Geschichte und Gegenwart lässt sich vieles lernen, aber Zukunft auf der Grundlage von Zukünften des heutigen Standes der Wissenschaft lässt sich daraus weder ableiten noch vorhersagen. Zukunft ist auch nicht vorherbestimmt. Es gibt kein Gesetz des Fortschritts und gelingenden Wandels. Wer den Versuch unternimmt, aus der Geschichte zu extrapolieren und daraus auf die Zukunft zu schließen, verengt seinen Blick auf den Zukunftsraum und läuft Risiko, zu irren.

Gleichwohl erscheint es lohnend, für Zukünfte im Kontext einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion ein Fundament zu formulieren, das als Grundlage für alle Modelle und Szenarien dient. Das Wertefundament für die Menschen im Zivilisationsraum des Westens wird sich an der kulturellen Moderne orientieren: Aufklärung, Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, vielleicht auch Laizismus und Zivilgesellschaft.

Der Westen unterscheidet sich von anderen Zivilisationen und Kulturen vor allem durch die Eigenart seiner Werte und Institutionen. Und er ist die einzige Quelle für die Ideen der Freiheit des Individuums, der Menschenrechte, der politischen Demokratie und der kulturellen Freiheit. Diese Werte machen die westliche Kultur einzigartig, und die westliche Kultur ist wertvoll, nicht weil sie universell, sondern weil sie wirklich einzigartig ist (Huntington).

Bei der Entwicklung von Zukünften lohnt ein Blick in die Geschichte. Der britische Historiker N. Ferguson sieht die Symptome für den Niedergang des Westens vor allem in nachlassendem Wachstum, explodierenden Staatsschulden, fragilem Sozialgefüge und alternden Bevölkerungen und deren Ursachen im Bröckeln der repräsentativen Demokratie, der Marktwirtschaft sowie des Rechtsstaates und der Zivilgesellschaften. Er beschreibt sechs „Killerapplikationen“, die den Erfolg des Westens begründet haben: Eigentum, Wissenschaft, Medizin, Konsum, Arbeitsmoral und Wettbewerb. Sicherlich gehört auch Bildung dazu. Der Westen steht mit anderen Zivilisationen, Kulturen, Gesellschaften, Bündnissen, Staaten und Organisationen im Wettstreit. Bei der Entwicklung von Zukünften lohnt der Blick, wo andere besser sind als wir, und wo wir auf der Grundlage unserer einzigartigen Kultur Wettbewerbsvorteile haben oder schaffen können. Die Vitalität des Islam und insbesondere die ökonomische Dynamik Asiens sind mächtige Wettbewerber. Es liegt allein an uns, bei der Entwicklung der Zukünfte und der darauf basierenden Strategieansätze diese einzigartige Errungenschaft zu bewahren und zu beschützen.

Die Wissenschaften bieten auch unter den Rahmenbedingungen des sich rasch verändernden Wissens ein breites Spektrum an Methoden und Verfahren, um Zukünfte in allen Dimensionen zu denken und Modelle der zukünftigen Wirklichkeiten sowie ihr Zusammenwirken zu entwickeln. Wissenschaftstheorien und -modelle müssen sich im Hinblick auf Zukünftefähigkeit einem harten Wettbewerb stellen.

Zukünfte haben eine Vielzahl von Dimensionen: Inhalt (politisch, gesellschaftlich, kulturell), Reichweite (morgen, in 10, 30 Jahren), Wahrscheinlichkeit, Plausibilität, Wirkungen, Wirklichkeitsorientierung.

Die zivilisatorische und kulturelle Dimension, einschließlich der Fragen der Relevanz künftiger Religionen, sind in der westlichen Welt noch kaum integraler Bestandteil der Reflexion über Zukünfte. Bereits Anfang der 1960er Jahre hat der französische Soziologe Raymond Aron darauf hingewiesen, dass die Heterogenität der Zivilisationen auf lange Sicht schwerwiegendere Folgen nach sich ziehen werde als die feindliche Gegenüberstellung zweier Regime oder Lehren.

Wir erleben derzeit dramatische Veränderungen der Weltordnung und das Ende einer Ära, während die Umrisse eines neuen weltpolitischen Zeitalters bisher nur in Ansätzen erkennbar sind (Ischinger); wahrscheinlich sind wir Zeitzeugen der Entstehung einer neuen Zivilisation (Toffler). In der Sicherheitspolitik beobachten wir globale und regionale Machtverschiebungen mit geopolitischen und -strategischen Auswirkungen; Staaten, Räume und Mächte definieren und ordnen sich neu. Die Auswirkungen globaler Phänomene wie Klimawandel, Demografie, Ressourcenverbrauch, Technologien und auch die Globalisierung selbst wirken weltweit in alle Lebensbereiche und verändern die Lebenswelten der Menschen. Die Auswirkungen der Entstehung einer globalen Wissens-, Informations- oder Netzwerkgesellschaft sind erst in ersten Ansätzen wahrnehmbar (Castells), ihre Ausmaße jedoch nicht vorherseh- und -sagbar. Auch der Rückfall in Regionalismus und Autarkie ist nicht auszuschließen.

Vor uns liegt ein Jahrhundert, das uns die Chance bietet, viele Krankheiten und den Hunger zu überwinden, die Schäden des Industriezeitalters zu minimieren und neue, bessere Technologien zu entwickeln, die den Wohlstand aller Menschen fördern können, eine größere Zahl und Diversität von Kulturen und Völkern an der Gestaltung der Zukünfte zu beteiligen und vielleicht sogar das Phänomen des Krieges zu beherrschen oder gar zu beseitigen. Doch es bestehen gleichzeitig im Extrem erhebliche Risiken, dass die Zukünfte ein neues Mittelalter bieten, geprägt von ethnischem Hass, von der Zerstörung oder Verwüstung der Zivilisationen, von Kriegen und gewaltsamen Auseinandersetzungen.

Das Denken in Zukünften erlaubt uns, Entwicklungsindikatoren, Entscheidungspunkte und -räume, aber auch mögliche Risiken zu identifizieren. Da die Vielzahl von Systeminteraktionen, Entscheidungen von Menschen, aber auch die Analyse der möglichen Zukünfte die Zukunft beeinflusst, ist die Zukunftsanalyse ein iterativer Prozess, der das Fundament für strategisches Denken und Handeln bildet. Grundvoraussetzung dafür ist die Freiheit, auch in unbequemen Alternativen zu denken, denn zu verstehen, was in ungewollte Zukünfte führt, kann ebenso wertvoll sein, wie den Weg in die erwünschte Zukunft zu verstehen. Es ist zu hoffen und zu wünschen, dass politisches und gesellschaftliches Bewusstsein künftig stärker mit den dramatischen Veränderungen korrespondiert. Toleranz im Sinne der Aufklärung und Verantwortung sind dabei das Gebot der Stunde.

Denken auf Vorrat und in Zukünften und die Entwicklung und vergleichende Gegenüberstellung möglicher Zukünfte schafft Voraussetzungen, um Ängste abzubauen und Mut für die Zeit nach der Gegenwart zu entwickeln. Bewusstes Denken in Zukünften und einer Vielzahl unterschiedlicher Modelle und Verfahren an unterschiedlichen Objekten und deren Beziehungen zueinander, verdeutlicht sehr schnell, dass Zukünfte stets Alternativen bieten. In diesen Entscheidungsräumen lassen sich attraktive und lebenswerte Zukünfte entwickeln, an denen wir durch strategisches Denken und Handeln gemeinsam mit gleichgesinnten Partnern mitgestalten können. Die Steigerung der Strategiefähigkeit ist dabei von besonderer Bedeutung.

In eigener redaktioneller Verantwortung: Brigadegeneral a. D. Karl H. Schreiner war in seiner letzten dienstlichen Verwendung bis 2014 Direktor Lehre an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg.