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Der Ende 1987 unterzeichnete und am 1. Juni 1988 in Kraft getretene Washingtoner Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) zählt zu den Meilensteinen in der Überwindung des Kalten Krieges. In ihm verpflichteten sich die USA und die damalige Sowjetunion, auf landgestützte Nuklearraketen in den Reichweitekategorien 500 bis 1.000 Kilometer und 1.000 bis 5.500 Kilometer zu verzichten. Vor allem die Europäer hätten im Kriegsfall im Fokus dieser Systeme gestanden. Entsprechend nahmen sie den Vertrag mit großer Erleichterung auf. Zugleich strafte er alle diejenigen Lügen, die wenige Jahre zuvor auf die Straße gegangen waren, weil sie den NATO-Doppelbeschluss von 1979 als einen hinterlistigen Akt der Aufrüstung ansahen. Nichts anderes als Mittelstreckenwaffen der USA in Europa bloß zu stationieren, um zugleich über deren komplette Beseitigung zu verhandeln, hatte er versprochen. Dieses Versprechen war mit dem INF-Vertrag eingelöst.

Heute, gut 30 Jahre später, scheint der Wille zu Kooperation auf dem Gebiet der Rüstungsbegrenzung (und darüber hinaus) erloschen zu sein. Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion verstößt durch seine andauernde Intervention in der Ukraine gegen das Völkerrecht und fordert NATO und EU strategisch heraus. Auch der INF-Vertrag scheint von Moskau ausgehöhlt worden zu sein. Der NATO liegen Erkenntnisse vor, dass die Reichweite neuer russischer Marschflugkörper weit höher ist als offiziell deklariert, so hoch, dass sie eigentlich nicht hätten produziert und stationiert werden dürfen. Sollte Moskau nicht einlenken, wird Washington den INF-Vertrag seinerseits binnen kurzem aufkündigen. Generell steht allerdings die Frage im Raum, ob ein bilateraler Vertrag dieser Art noch zeitgemäß ist. Längst verfügen auch andere Staaten über das technologische Know-how, Mittelstreckenwaffen zu produzieren, mit denen Europa oder die USA (oder eben auch Russland) bedroht werden könnten. Ein multilaterales Abkommen anzustreben, das Staaten wie China oder letztlich sogar Iran und Nordkorea einbeziehen müsste, ist jedoch illusorisch.

Niemanden kann es überraschen, dass der neue Ost-West-Gegensatz, der sich ab 2007 andeutete und mit der Ukraine-Krise 2013/14 vollends zum Ausbruch kam, nun auch eine nukleare Komponente hat. Da es nicht möglich war, die Krise in einer Weise zu lösen, die Russland wie dem Westen eine Gesichtswahrung erlaubt und zugleich den Interessen der Ukraine als dem eigentlich betroffenen Staat Rechnung trägt, haben wir es mit einem weiteren „frozen conflict“ zu tun, der höhere Aufmerksamkeit als die anderen in Südossetien/Abchasien, Berg-Karabach und Transistrien findet und ebenso wie diese die Gefahr birgt, jederzeit militärisch eskalieren zu können. Die Ukraine hat aus den Avancen, die die NATO ihr gemacht hat, den Schluss gezogen, dass sie über gewisse Sicherheitsgarantien des Westens verfügt. Dies war eine Täuschung und vermutlich nicht bloß eine Selbsttäuschung. Die NATO kann die Ukraine nicht schützen, genauso wenig wie sie Georgien mit mehr als diplomatischen Initiativen und symbolischen Marineübungen Unterstützung bieten könnte. Für das Bündnis wäre es bereits schwierig genug, seine Beistandsverpflichtungen gegenüber den exponierten baltischen Staaten zu erfüllen, so diese denn jemals das Ziel einer feindlichen militärischen Intervention würden. Man darf sicherlich nicht kleinreden, was das Bündnis seit dem Gipfel von Wales alles erreicht hat. Die Mitgliedstaaten investieren wieder mehr in ihre Streitkräfte und diese haben nach über 15 Jahren, in denen Stabilisierungseinsätze in Afghanistan und anderswo im Mittelpunkt standen, zu ihrem eigentlichen Kernauftrag der Landes- und Bündnisverteidigung zurückgefunden. Was die NATO militärisch zu leisten vermag, ist aber immer noch recht überschaubar und kann sich mit den Ressourcen und Fähigkeiten, auf die sie im Kalten Krieg zurückgreifen konnte, nicht messen. Allerdings muss man fairerweise auch festhalten: Wir wissen nicht, wie wichtig die konventionelle Stärke der NATO letztendlich war, um den Gegner im Kalten Krieg von militärischen Abenteuern abzuhalten. Vielleicht war es damals doch vor allem das Atomwaffenarsenal, das für eine glaubwürdige Abschreckung sorgte. Auf diese Form der Abschreckung kann weiterhin nicht verzichtet werden, und damals wie heute erfordert sie, dass die Sicherheit der Amerikaner und der Europäer nicht dadurch entkoppelt werden kann, dass der strategische Gegenspieler über Mittelstreckenwaffen verfügt, denen der Westen nichts entgegenzusetzen hat. Die Logik des NATO-Doppelbeschlusses von 1979 gilt unverändert. Ihr wird man sich stellen müssen, wenn keine andere Wahl besteht.

PB